Mittwoch, 24. Mai 2017

Politisches Argumentieren und die Emotionen

Mein Gott, lange her! Und heute wieder aktuell. Also hierherkopiert.

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16.02.2006 um 09:39 Uhr

In der ZEIT von heute (16. Februar 2006, S. 15ff.) ein Dossier über Musliminnen in Saudi-Arabien. Die inhalte so bizarr wie interessant. Auf der Leserbriefseite (S. 20) dann, neben anderem, Stellungnahmen zu verschiedenen Islam-Artikeln in zurückliegenden ZEIT-Ausgaben. In dem vieltönenden Chor, dissonant, am Ende nur eins: Jeder hat so seine Meinung, die auf Gefühlen aufruht. Darüber wird dann eine Konstruktion aus Sätzen errichtet, die Argumentation ergeben soll. Dabei ist Argumentieren sinnlos, wenn es keine verbindlichen und anerkannten -- nein, nicht: wenn es keine Regeln, Normen, Werte gibt. Sagen wir ruhig mal, mathematik-angelehnt: wenn es keine anerkannten Axiome gibt.

Viel gewonnen ist schon, wenn man sich seiner eigenen Gefühle versichert. Wie sehr mag ich die Muslime? Wen mag ich überhaupt? Welche Eigenschaften sind für meine Sympathien und Antipathien verantwortlich.

Und: das ganze Gerede aus der Multikulti- und Political-Correctness-Ecke, was kann ich damit anfangen?

Ich lege also einmal Rechenschaft ab:

1. Hinweise auf die Geschichte. Was die Europäer den Entwicklungsländern angetan haben und daß die deshalb verständlicherweise so sind und so regieren wie sie sind und wie sie reagieren. Die Palästinenser ohnehin. -- Mein Gefühl sagt mir: Wenn in Deutschland die Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg in Zeltstädten an der Ostgrenze untergebracht worden wären, hätten wir dort heute in Abständen immer wieder mal eine veritable Intifada gegen die Polen und die Tschechen.

Oder anders: Wo ist die Grenze des zeitlichen Bezugs? Haben die Israelis nicht das Recht auf Palästina, weil sie dort vor den Palästinensern waren, und müßten die Israelis nicht die Italiener als Rechtsnachfolger der Römer, also wegen der Sache mit Titus 70 n. Chr., vor den Gerichtshof in den Haag bringen?

Das ist keine Gedanken-Karikatur, sondern es soll die Feststellung vorbereiten: Die Geschichte kann nicht ewig und für alles herhalten. Natürlich ist der Geschichtsbezug eine kaum wegzudrückende Instinktsache, wenn es um Gerechtigkeit geht. Wir müssen uns aber Gedanken über die dahinterstehenden Grundsätze und Grenzziehungen machen.

2. Nicht alle Muslime sind so. Ja, natürlich nicht. Aber das menschliche Gehirn ist auf Stereotypisierung und Vereinheitlichung angelegt. Da kann man wenig machen. Oder mal bildhaft gesagt: Wenn sich herausstellen würde, daß 90% der Attentäter der vergangenen 20 Jahre zur Gruppe der -- im Wortsinn jetzt -- blauäugigen Menschen gehören, dann würden die Blauäugigen unter Generalverdacht geraten. Auch wenn vollkommen klar und jederzeit unbestritten ist, daß a) 10% der Bombenbastler nicht blauäugig waren und daß b) 99,95% der Blauäugigen mit den Attentaten nichts zu tun hatten. So ist das nun mal mit dem menschlichen Bewußtsein und den darin enthaltenen Verallgemeinerungstendenzen.

3. Gekaufte Fähigkeiten. Die Entführer im Irak filmen ihre Opfer mit Camcordern, die aus Japan stammen, und kurven mit Autos aus Europa und Japan herum. Das Problem, das kaum jemals ausgesprochen wird (außer von H. M. Enzensberger im SPIEGEL, mit etwas taumelnden Sätzen): daß die Muslime im Nahen Osten von dem leben, was sie auf der Welt einkaufen, ohne selbst etwas Technisches, Wissenschaftliches, Innovatives hervorzubringen. (Selbstverständlich haben sie hervorragende Einzelwissenschaftler und wahrscheinlich auch hervorragende Automechaniker. Aber sie haben keine politische Kultur, um ein Autowerk mit innovativen Automodellen aufzubauen. An Geld würde es ja wahrhaftig nicht fehlen.) Würden die Muslime des Nahen Ostens als Amish -- nein, als Muslim People die Scharia nehmen und sich abschotten -- sie wären ein wohlgelittenes Großkuriosum in der Welt. Das Problem entsteht, weil da Menschen in der Moderne anerkannt sein und mitreden und mitspielen wollen, ohne die Regeln der Moderne anzuerkennen. Und ohne Leistungen zu erbringen, die sie als Mitglieder der Moderne ausweisen.