... ist das Lästern über die Zustände in Gomorra nur noch ein schaler Witz.
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Sex im Präsidentenbüro Macht Unterricht mit Pornos, Affären mit Studenten, mutmaßlich Vergewaltigungen. Das Gebaren zweier Professoren der Münchner Musikhochschule sprengte viele Grenzen. Musikhochschule in München: »Sodom und Gomorrha« Der 23-jährige Kompositionsstudent der Hochschule für Musik und Theater München fand es nicht ungewöhnlich, dass der Unterricht im Schlafzimmer seines Professors stattfand. Er wunderte sich auch nicht, dass zu Beginn der Einzelstunde ein Porno lief. Nichts Neues, er kannte das schon. || Er erinnerte sich an die Worte des Professors, man könne im Verhalten der Darsteller viel über die Oper lernen. Ungewöhnlich war diesmal, dass die Freundin des Professors auftauchte, ihr Kleid abstreifte, dem Studenten die Hose aufknöpfte und ihn oral stimulierte. Währenddessen saß der Professor am Schreibtisch und komponierte eine Oper. Mit Texten von Franz Kafka. Er habe sich unwohl gefühlt, wird der Student 14 Jahre später der Polizei sagen. Die Pornofilme habe er als widerlich empfunden, aber er habe sich nicht gewehrt, aus Angst, der Professor werde seine Zukunft zerstören. Er wird von einem Nervenzusammenbruch berichten, von Albträumen, Schuldgefühlen und einem Sexualleben, das ab diesem Vorfall von Aggressivität geprägt gewesen sei. Der Student hatte Spaß, wird die damalige Freundin und heutige Frau des Professors sagen, er sei der Fordernde gewesen. Er sei bei ihnen ein- und ausgegangen und habe gewusst, welch freizügiges Leben sie führten. Er habe jederzeit gehen können, er sei ein erwachsener Mann gewesen. Der Professor, Hans-Jürgen von Bose, wird sagen, sich keiner Schuld bewusst zu sein. Als Charlotte Weidenfels(*) an einem Tag im September 2004 von Bamberg nach München fuhr, wollte sie einen Job. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder hatte sich als Assistentin einer Referentin an der Hochschule beworben. Diese bat sie nach dem Vorstellungsgespräch, um 17 Uhr nochmals zu erscheinen, um mit dem Präsidenten Siegfried Mauser zu sprechen. Als sie dann durch die Hochschule lief, fand sie die Gänge still und verlassen vor, das Semester hatte noch nicht begonnen. Die Doppeltür zum Präsidentenzimmer blieb ihr in Erinnerung, weil sie gepolstert war, sodass Geräusche nicht nach außen drangen. Die Begrüßung war freundlich, ein Jahr zuvor hatte sie am Rande eines Konzerts ein paar Worte mit Mauser gewechselt. Dann küsste der Präsident die Frau unvermittelt auf den Mund. Für ihn sei es echte Zuneigung gewesen, wird er später sagen, als er dem Gericht zu erklären versucht, warum er nicht von ihr abließ, obwohl die Frau nach ihren Aussagen den Kuss nicht erwiderte. Als Mauser anal in sie eindrang, will er Lustschreie gehört haben. Die Frau sagt, es seien Äußerungen von Schmerz und Angst gewesen. Schließlich machte sich der Hochschulprofessor die Hose zu: »Jetzt ist das Sofa eingeweiht.« Der Sex sei einvernehmlich gewesen, wird er später sagen. Die Frau wolle sich an ihm rächen, er sei sich keiner Schuld bewusst. Über Schuld und Strafe der beiden Professoren entscheiden die Gerichte. Siegfried Mauser ist vor dem Landgericht München angeklagt, es ist sein zweiter Prozess. Er wurde bereits wegen sexueller Nötigung zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Nun geht es um den Verdacht der Vergewaltigung der Bewerberin und der sexuellen Nötigung einer Sängerin. Sieht das Gericht die Taten als erwiesen an, muss der langjährige Präsident vermutlich ins Gefängnis. Zudem hat er dienstrechtliche Verfahren zu befürchten. Hans-Jürgen von Bose wurde im Juli 2016 von der Staatsanwaltschaft München I angeklagt. Am stärksten wiegt der Vorwurf, dass er zwischen 2006 und 2007 die Schwester eines seiner Studenten mehrfach vergewaltigt haben soll, was er vehement bestreitet. Nach fast zwei Jahren hat das Landgericht München noch immer nicht entschieden, ob es das Verfahren gegen ihn eröffnen wird. Die juristische Bewertung einzelner Taten, so sie denn stattgefunden haben, ist das eine. Das andere ist das Umfeld, in dem diese Vorwürfe erhoben werden und das sexuelle Übergriffe erheblich erleichtert. In einer Musikhochschule ist die Abhängigkeit der Studenten von ihren Lehrern besonders groß. Der Professor entscheidet maßgeblich mit, ob es mit der künstlerischen Karriere etwas wird oder nicht. Man besucht gemeinsam Konzerte, unternimmt Reisen. Im Unterricht kommen Student und Professor einander oft sehr nahe, beim gemeinsamen Üben am Instrument, beim Trainieren der richtigen Körperhaltung und Atmung. Sich dabei anzufassen ist normal. Der Schritt, die Nähe und die Abhängigkeit zu missbrauchen, ist nicht groß. Noch dazu, da der Unterricht oft in kleinem Kreis stattfindet: nur Lehrer und Schüler, meist bei geschlossener Tür. Eine Atmosphäre, die in München zu einem Zustand führte, den ein Verteidiger im ersten Mauser-Prozess als »Sodom und Gomorrha« beschrieb. Der Professor habe den Studenten aufgefordert, »das wilde Tier« in sich herauszulassen. Eine interne Erhebung, die dem SPIEGEL vorliegt, erfasst die Aussagen von rund 800 Hochschulangehörigen. 115 haben während ihrer Zeit an der Münchner Musikhochschule »anzügliche Bemerkungen« gehört, 56 »anzügliche Gesten« wahrgenommen, 34 meldeten, »angegrapscht oder absichtlich berührt« worden zu sein. 9 Befragte berichteten, ihnen seien Genitalien gezeigt worden. 8 sagten aus, zu sexuellen Handlungen gezwungen worden zu sein. 7 wurden demnach von ihrem Gegenüber Nachteile angedroht, weil sie einen Annäherungsversuch abgelehnt hatten. Auch eine Vergewaltigung wurde gemeldet. Die Hochschule hat die Ergebnisse der Umfrage bislang nicht veröffentlicht. Ein Gespräch mit dem SPIEGEL zu den Vorfällen lehnte das Präsidium ab. Auch schriftliche Fragen – etwa, wie die #MeTooDebatte innerhalb der Hochschulleitung geführt werde – beantwortete sie nicht. Einige der Fragen hätten unwahre Behauptungen enthalten, hieß es zur Begründung. Doch nicht alle Hochschulangehörigen sind so verschlossen. »Es kann nicht sein, dass unsere Studentinnen und Studenten mit ihrem Professor schlafen müssen, um Erfolg in ihrem Beruf zu haben«, sagt der Pianist Moritz Eggert, 52. Er lehrt Komposition an der Hochschule und begann vor Jahren, die Vorwürfe gegen seine Kollegen zu thematisieren. Als Zeuge vor Gericht sagte er gegen seinen ehemaligen Vorgesetzten aus und machte sich damit viele Feinde. Einer dieser Feinde sitzt in einem Reihenhaus in Zorneding, gut 20 Kilometer von der Münchner Stadtmitte entfernt, zieht an einer filterlosen Zigarette und redet offen über all die Vorwürfe gegen ihn. Hans-Jürgen von Bose war ein Shootingstar in der Komponistenszene. Seine Oper »Schlachthof 5«, 1996 am Münchner Nationaltheater uraufgeführt, polarisierte, die musikalische Inszenierung wurde gefeiert. »Das könnte sie sein: die Oper der Zukunft«, schrieb der Rezensent des SPIEGEL. Dann, sagt Bose, hätten die Kritiker damit begonnen, ihn zu vernichten. Er sei mit seiner konservativen Haltung angeeckt. Er sei gemobbt worden und erkrankt. Der damalige Präsident, Siegfried Mauser, erlaubte dem Dozenten ausnahmsweise, einzelne Studenten zu Hause zu unterrichten. Immer wieder musste Bose den Unterricht absagen und war für manche Studenten lange nicht erreichbar. Bei der Hochschulleitung gingen Beschwerden ein. Im Dezember 2007 wurde der Komponist als dienstunfähig in den Ruhestand versetzt, vier Jahre später beantragte er die Wiedereinstellung. Sie wurde ihm zum Oktober 2012 genehmigt, nachdem er ein amtsärztliches Attest bekommen hatte. Da die Polizei nun gegen ihn ermittelt, ist er vom Dienst vorläufig freigestellt. Er bezieht Gehalt, freie Aufträge bekomme er aber nicht mehr. Er beklagt eine »massive Zerstörung« seines Namens. Als er 2008 ein Klavierkonzert seines Freundes Siegfried Mauser besuchte, hatte jemand eine Todesanzeige mit seinem Namen im Programmheft platziert. Bose macht Menschen wie Moritz Eggert für seine Krise verantwortlich. Sie hätten es auf seine Stelle abgesehen. Sie würden seine Art des Umgangs mit anderen nicht akzeptieren, seinen kleistschen Lebensstil, wie er ihn nennt. In diesem Lebensstil vermischen sich Lehre und Privates, Grenzen gibt es in diesem Konzept keine mehr, auch keine Distanz. Für ihn sei Komponieren eine private und intime Angelegenheit, deshalb habe er auch mit seinen Studenten über Privates und Intimes gesprochen. Wer ihm zu »starr und viereckig« vorkam, dem brachte er die Kulturgeschichte des Pornos nahe, weil er darin Parallelen zur Musikgeschichte sah. Er war als Lehrer mit dieser tabulosen Offenheit und seiner Streitlust auch beliebt. 21 Studenten protestierten im März 2015 mit einer Petition dagegen, dass er nicht wieder die Genehmigung erhielt, zu Hause zu unterrichten. Angeklagter Mauser Keiner Schuld bewusst Bose sagt, er sei ständig auf der Suche nach einem Kick, beim Autofahren und auch im Bett. Er berichtet von einem sexuellen Erlebnis mit einem 20-Jährigen, den er aus einer Musikakademie kannte. Der junge Musiker wurde sein Student. Es müsse 1988 oder 1989 gewesen sein, als der junge Mann nach einem Konzert in München bei ihm übernachtet habe. Es kam zu einer analen Penetration, wie es in den Berichten der Polizei später heißt. Bose sagt, er habe das »psychisch wie physisch extrem vorsichtig vollzogen«. Er habe das Gefühl gehabt, für den Studenten sei es wichtig gewesen, diese Erfahrung zu machen. Es blieb bei einem Mal. Der damalige Student sagt, auch wenn keine Gewalt im Spiel gewesen sei, sehe er den Akt heute als eine Art Missbrauch an. »Herr von Bose hat meine damalige Situation wohl für seine Zwecke ausgenutzt.« Bis heute fühlt Bose sich unschuldig. Der Staat aber schickte ein Sondereinsatzkommando zu ihm. Es ging um die mutmaßlichen Vergewaltigungen der Schwester seines Studenten. 28. April 2015, 6.40 Uhr morgens: Im Flutlicht brachen schwer bewaffnete Männer die Tür zum Garten auf. Eine damals 23-jährige Studentin wohnte im Haus des Professors, in einem Zimmer im Keller. Die Polizisten hätten sie hart gegen ein Klavier, dann auf den Boden gedrückt, erzählt Irvana Popowa(*). Tagelang habe sie die Hämatome gespürt. Der zweitjüngste Sohn des Professors sagt, er habe ein Trauma erlitten und sei nach dem Einsatz ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen. Als die Polizisten das Haus durchsuchten, fanden sie illegale Substanzen. »Mülltütenweise« hätten sie Medikamente und Drogen aus dem Haus getragen, wird der ermittelnde Staatsanwalt später sagen. Darunter waren 5,1 Gramm eines Kokaingemischs. Hans-Jürgen von Bose sagt, die Rauschmittel hätten ihm beim Komponieren geholfen. Und, offen wie er sei, habe er seinen Studenten von diesen Drogenerfahrungen erzählt. Er verweist auf große Schriftsteller, Gottfried Benn, Aldous Huxley, die nur unter Drogen Geniales vollbracht hätten. Auch Medikamente habe er in großen Mengen konsumiert, um die Schmerzen nach einem vierfachen Bandscheibenvorfall zu lindern. 400 Tropfen des Schmerzmittels Valoron habe er am Tag geschluckt, empfohlen sind höchstens 240. Als sich die junge Russin Irvana Popowa an der Musikhochschule vorgestellt hatte, hatte sie auf die Professoren keck, aber auch zerbrechlich gewirkt. Das könnte erklären, warum sie nicht der Klasse von Hans-Jürgen von Bose zugeteilt wurde. Die Frauenbeauftragte kannte Gerüchte, dass man aufpassen solle. Wenn das der Versuch war, die junge Frau und den Professor voneinander fernzuhalten, muss er als gescheitert bezeichnet werden. Im Hochschulwohnheim versuchte sie, Anschluss zu finden, der Kummer über den Tod ihrer Schwester nagte schwer. Das Geld fehlte, um zum Begräbnis zu reisen. Die Zeit drängte, um einen Kompositionsauftrag abzuschließen. Sie vertraute sich Professor Bose an. Er war fasziniert von ihr und lud sie nach Hause ein. Der Prozess von der ersten Übernachtung, weil die letzte S-Bahn weg war, bis zu ersten flüchtigen Berührungen war fließend. Im Dezember 2013 wurden der Professor und seine Studentin ein Paar, Jahre später sogar Eltern eines Sohns. Die zwei lebten gemeinsam mit Boses Ehefrau und den Kindern zusammen. Irritierend ist ein Stundenplan, den die Polizei bei der Hausdurchsuchung fand: Die Studentin hatte notiert, wie oft und wann sie etwa mit ihrem Professor in der Woche Sex haben sollte und wann andere Sexualpartner dazukommen würden. Daneben waren die Stunden für die Hausarbeit notiert und die für das Komponieren. Professor Bose »Von meinen Kritikern vernichtet« Dozenten der Hochschule machten sich Sorgen, dass der Professor seine Studentin gefügig gemacht haben könnte. Ihre Kommilitonen wollen bemerkt haben, wie Popowa dünner und blass wurde. Die Universität besuchte sie immer seltener. Im Internet fanden sich Anzeigen: Sex für 200 Euro die Stunde. Das Geld sparte sie und unterstützte damit ihre Familie. Irvana Popowa redet ungern darüber. Sie sagt, dass sie nicht mehr komponiere, und begründet es mit der angespannten Situation nach dem Polizeieinsatz und dem Kleinen, der ihre Aufmerksamkeit fordere. Im vergangenen November allerdings hielt sie es nicht mehr aus. Sie buchte für den folgenden Tag ein Ticket ohne Rückflug nach Sankt Petersburg zu ihren Eltern, den Kleinen nahm sie mit. Erst sechs Wochen später kehrte Popowa zurück. Sie sagt, sie könne es sich nicht erklären, warum sie abgehauen sei. »Ein Kurzschluss.« Das alles ist nicht angeklagt, das alles ist erlaubt. Aber es ist bedeutsam, um das Umfeld zu verstehen, in dem eine andere Frau schwerwiegende Vorwürfe gegen den Hochschulprofessor erhebt, eine 34-jährige Akademikerin. Sie sagt laut Anklageschrift, Hans-Jürgen von Bose habe sie während ihrer mehrmonatigen Beziehung dreimal vergewaltigt. Er habe seine Position als Professor ausgenutzt, um sie unter Druck zu setzen. Leyla Abassi(*) lernte den Professor über ihren Bruder kennen, der bei ihm studierte. Sie war 22 Jahre alt, er 53. Sie war beeindruckt von seiner »Unborniertheit und Lebendigkeit«, er von ihrer »orientalischen Schönheit«. Mit seinen Monologen zog er sie in seinen Bann. Ging es anfangs noch um Themen der Kunst und Musik, sprach der Professor irgendwann von seinen sexuellen Bedürfnissen. Sie übernachtete in seiner Wohnung, sie kamen sich auch sexuell näher. Im Nachhinein kann man schwer sagen, wer den Impuls zu sexuellen Experimenten gab. Die beiden besuchten nun regelmäßig Swingerklubs, manchmal kamen andere Männer nach Hause. Es war sein Wunsch, ihr beim Sex mit ihnen zuzusehen. Bose habe sich irgendwann nicht mehr angestrengt, seine Aggressionen und Perversionen zu kontrollieren, sagte Abassi der ermittelnden Beamtin. Bose sagt, seine Geliebte habe sichtlich Vergnügen beim Sex mit anderen Männern gehabt. Hinterher habe sie das nicht eingestanden, »da war ich richtig böse«. Da sei mal ein Aschenbecher geflogen, da habe er vielleicht den Satz gesagt, den Leyla Abassi in ihrer Vernehmung zitierte: Er brauche nur hinzulangen, dann klebe ihr Gehirn schon an der Wand. Er sei ein Choleriker, ernst meine er das nicht. In nüchternen Worten beschreibt Abassi acht Jahre später der Polizei, wie Bose dreimal in sie eingedrungen sei, ohne dass sie es gewollt habe. Manchmal sei sie apathisch gewesen, dehydriert und ausgehungert. Sie habe geweint, etwa wenn sie von der Flucht aus ihrer Heimat im Nahen Osten erzählte. Diese Momente totaler Erschöpfung habe Bose ausgenutzt. An die Weinkrämpfe könne er sich zwar erinnern, sagt Bose. Aus einer tröstenden Umarmung sei dann aber einvernehmlicher Sex geworden. Leyla habe jederzeit gehen können, eine Fluchttür zur Feuertreppe sei gleich neben dem Schlafzimmer gewesen. »Die Vorwürfe sind absurd.« Die Staatsanwaltschaft München sieht sich nach intensiven Ermittlungen in ihrer Einschätzung bestätigt: Sie wirft Hans-Jürgen von Bose vor, er habe gezielt ein Klima der Gewalt und der Ausweglosigkeit für die Betroffene geschaffen. Diese habe um ihr Leben gefürchtet, weil er neben seinem Bett eine Waffe aufbewahrte. Im Haus fand die Polizei eine Schreckschusspistole. Komponist Eggert Gegen den Vorgesetzten ausgesagt Wichtiger aber ist ein anderes Druckmittel, das die Staatsanwälte anführen: Bose habe seine Macht als Professor des Bruders an der Musikhochschule und als einflussreiche Persönlichkeit in der Musikszene gezielt ausgenutzt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er habe der Geschädigten angedroht, er könne ihren Bruder ruinieren. Bose sagt, es sei eine »glatte und extrem bösartige Lüge«. Eine renommierte Psychologin, die im Auftrag des Landgerichts ein aussagepsychologisches Gutachten erstellt hat, hält generell eine absichtliche Falschbezichtigung der Frau für unwahrscheinlich. Allerdings könnten sich deren Schilderungen in der Erinnerung teilweise verzerrt haben. Auch auf Grundlage des Gutachtens prüft das Landgericht München, ob es die Anklage gegen Hans-Jürgen von Bose zulässt. Drei Jahre sind seit der Hausdurchsuchung vergangen, ohne dass das Gericht entschieden hätte, was die Situation für beide Seiten unerträglich macht: für die betroffene Frau, die auf Gerechtigkeit hofft. Für den Beschuldigten, der seine Unschuld beweisen will. Auch Siegfried Mauser tut sich schwer, Schuld bei sich zu finden. Er habe es versucht, sagt der Ex-Präsident, als er sich Anfang Mai in einem seltenen Moment bei einer Veranstaltung blicken lässt, bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises im Münchner Prinzregententheater. »Mir ist es bislang nicht gelungen.« Mauser ist ein angesehener Konzertpianist, Kammermusiker und Liedbegleiter. Als Musikwissenschaftler und Präsident einer der besten Musikhochschulen Deutschlands genoss er bald einen Ruf, der über Bayern hinausging. Für die Staatsanwälte aber ist er ein Mann, der eine unbekannte Frau wie nebenbei vergewaltigte. Gerüchte über den barocken Frauenhelden gab es schon lange, am 13. Mai 2016 kam es erstmals zu einer Verurteilung. Im April 2009 soll der Professor eine Kollegin gegen ihren Willen geküsst und sexuell genötigt haben. Ein Schöffengericht verurteilte ihn zu 15 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und Zahlung von 25 000 Euro, in der Berufung wurde die Strafe auf neun Monate reduziert. Über die Revision muss noch entschieden werden. Von einem anderen Vorwurf sprach ihn das Gericht frei: 2012 hatte Mauser einer renommierten Konzertgitarristin mehrere Zungenküsse aufgenötigt und sie in den Diensträumen während einer Probe an den Genitalien berührt. Die Frau habe sich nicht erkennbar gegen ihn zur Wehr gesetzt, stellte das Gericht fest. Ein Argument, das Mausers Anwälte im laufenden Verfahren anbringen: Die Frau, die sagt, sie sei im Präsidentenzimmer vergewaltigt worden, habe später mit Mauser einmal einvernehmlich Sex gehabt. Die drei Verteidiger glauben, darin einen Widerspruch entdeckt zu haben. Für den Hamburger Sexualwissenschaftler Peer Briken ist es allerdings nicht ungewöhnlich, dass sich die Vorstellungen über das, was jemand als einvernehmlich erlebt, auch kurzfristig ändern können. »Man kann bei ausgeprägter eigener sexueller Erregung, Verliebtheit, Stimuliertheit den Schmerz beim Analverkehr genießen und unter den Umständen des gewalttätigen Ausnutzens von Macht und Abhängigkeit das eindeutig als erzwungene Erniedrigung erkennen«, sagt Briken. Bei strittigen Erfahrungen und Tatsachen zwischen zwei Menschen müsse diese normative Entscheidung ein Richter treffen. Konzertsaal in der Hochschule: Große Abhängigkeit vom Dozenten Die Anwältin Antje Brandes, die betroffene Frauen vertritt, sagt: »Wir wissen inzwischen von vielen Frauen, derer der Angeklagte sich einfach bedient hat, er hat seine Machtstellung rigoros ausgenutzt.« Auch die Rektorenkonferenz der Musikhochschulen hat sich mit den Vorgängen befasst. »Die Zeiten von Don Giovanni und Figaro sind Vergangenheit«, sagt die Vorsitzende Susanne Rode-Breymann. Sie begrüße es, dass sich wissenschaftliche Institutionen zum Thema der sexuellen Übergriffe klar positionierten und Maßnahmen sowie Standards entwickelten. In der Rektorenkonferenz habe man schon vor zwei Jahren damit angefangen. »Allerdings obliegt die Umsetzung den einzelnen Hochschulen.« An der Münchner Hochschule wandeln sich die Strukturen nur langsam. Zu stabil waren sie, sodass macht- und selbstbewusste Protagonisten wie Mauser und Bose über Jahre ungehindert agieren konnten. Beide Professoren waren befreundet und halfen einander. Sie tranken Bier zusammen und schwärmten zeitweilig für dieselbe Frau. Es führte dazu, dass Siegfried Mauser sich am 8. Mai 2007 von der Aufsichtspflicht als Rektor distanzieren wollte – aus persönlicher Befangenheit. In diesem Umfeld kam es vor, dass Dozenten mit ihren Studentinnen Affären eingingen und Kinder mit ihnen zeugten. Es war auch keine Seltenheit, dass offen sexuelle Forderungen gestellt wurden, wie mehrere Zeugen vor Gericht aussagten. Mancher Dozent tarnte seine sexuelle Gier offenbar als Übung für die Bühne. Eine Studentin erinnert sich an eine Vergewaltigungsszene, die ein Professor wieder und wieder einstudieren ließ. »Ich stand an der Säule, und mein männlicher Kommilitone sollte mich ›nageln‹, so nannte es der Dozent«, erzählt sie. »Nach Meinung des Professors hat sein Becken aber nicht authentisch genug gegen meins geknallt. Also stellte sich der Professor hinter den jungen Mann und zeigte, wie man es richtig macht.« Die Studentin möchte ihren Namen nicht veröffentlicht sehen. Die Angst, offen zu sprechen, ist bei vielen noch immer groß. Die Hochschulleitung beteuert in internen Runden, sie tue alles, um die Atmosphäre zu verbessern. Sie verweist auf einen Flyer, den jeder Student in die Hand gedrückt bekommt, mit dem Motto »Nein heißt Nein«. Als die ehemalige Frauenbeauftragte vor Gericht zu diesem Flyer befragt wurde, sagte sie: »Da gab es einen, ja. Mehr weiß ich nicht.« Die Richterin hakte nach: »Aber Sie müssen es doch wissen! Sie waren die Frauenbeauftragte!« Die Gefahr solcher Strukturen war der Hochschulleitung schon lange bekannt, spätestens seit 1995. Der 16-jährige Jungstudent Heinrich Ettenhofer(*) berichtete damals, Professor Bose habe ihm sexuelle Avancen gemacht. Seine Eltern hätten sich wahrscheinlich gewundert, wenn sie gewusst hätten, dass der Professor den talentierten Jungen gleich bei der ersten Begegnung zum Eisessen ausführte und später anbot, er könne nach einem Konzert bei ihm übernachten. Zunächst vertraute sich der Jungstudent seinem Lehrer am Internatsgymnasium an. Er erzählte ihm auch, dass der Professor ihn aufgefordert habe, »das wilde Tier« in sich herauszulassen. Der Gymnasiallehrer unternahm nichts, erst Ettenhofers Klavierlehrerin sah Handlungsbedarf. Sie kann sich noch heute an alles erinnern. Sie rief den Professor an und verwickelte ihn in ein Gespräch, das sie mit einem alten Anrufbeantworter mitschnitt. Ausgestattet mit diesem Material, beschwerte sie sich bei der Musikhochschule: Bose habe seine Stellung als Lehrperson sträflich ausgenutzt. Er habe den Schüler bedrängt zuzugeben, schwul zu sein. In der Hochschule löste der Mitschnitt Unruhe aus. Der Kanzler informierte das bayerische Kultusministerium, ein Regierungsdirektor bat darum, die Ermittlungen diskret ablaufen zu lassen, der Minister wurde eingeweiht. Schließlich erfuhr auch der Vater des Jungen von den Vorwürfen. Er ging zur nächsten Polizei und wollte Anzeige erstatten. Die Polizisten rieten ihm ab: Es sei ja nichts Handfestes vorgefallen. Ohne Eltern und Anwalt wurde der Jungstudent in die Hochschule geladen und zwei Stunden lang befragt, später folgte eine Anhörung im Ministerium. Er wollte unbedingt Komposition studieren und war dankbar, dass die Hochschule ihm wenig später gestattete, den Lehrer zu wechseln. Im Gegenzug unterschrieb er ein Protokoll, das nach seiner heutigen Einschätzung mehr als beschwichtigend war. Hans-Jürgen von Bose sagt, die Initiative sei von dem Jungen ausgegangen, der ihn bei der Aufnahmeprüfung ständig angestarrt habe. Er habe sich mit ihm getroffen, Eis gegessen und ihn ein paarmal unterrichtet, danach habe es kein Treffen gegeben. Er sei dann ins Ministerium zitiert worden, weil sich der Junge beschwert habe. Dort habe man ihn vor »einem Skandal« gewarnt, das Ministerium hatte seine Oper »Schlachthof 5« nach Boses Angaben mit 100 000 Mark finanziert. Kurze Zeit später habe er den Jungen auf der Straße getroffen und in seine Wohnung gebeten. Erst da habe er ihn damit konfrontiert, dass er wohl mit seiner Homosexualität nicht zurechtkomme. Das wisse er, weil es ihm in seiner Jugend genauso gegangen sei. Der Student hat noch den Abschluss gemacht, aber danach aufgehört zu komponieren. Er sagt, dass er mit diesen Menschen nichts mehr zu tun haben wolle. * Namen geändert. Martin Knobbe, Jan-Philipp Möller