Ich bin erst durch den SPIEGEL von gestern auf diese so eigenartige wie bedenkenswerte Geschichte gestoßen. Die Frage ist: Was macht man, wenn der wahre Bericht über Untaten nach dem Maßstäben einer bestimmten Kultur nicht öffentlich gemacht werden darf? Was gilt dann? "Der westliche Wert" oder der Wert des Ursprungslands? Was sagen da geübte Kulturrelativisten?
Dabei gibt es schon seit langem Berichte über diesen Fall.
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20.12.2003 AFGHANISTAN
Ihlau, Olaf: Blutendes Herz
Der Bestseller einer Norwegerin über eine Familie in Kabul sorgt mit intimen Details für Empörung in dem islamischen Land.
Grollend hockt Schah Mohammed Rais zwischen den Bücherbergen seines kalten Ladens im Hotel Interconti von Kabul und hadert mit den Zeitläuften. Ein Bestseller hat seine Familie zwar international bekannt gemacht, ihm bei seinen afghanischen Landsleuten aber "Schande bereitet".
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Bericht vom 28.07.2010
REINHARD WOLFF: Dichtung und Wahrheit aus KabulNORWEGEN Die Bestsellerautorin und Journalistin Åsne Seierstad muss wegen ihres Buches "Buchhändler aus Kabul" Schadenersatz zahlen. Ein weibliches Familienmitglied fühlt sich zutiefst in seiner Ehre gekränkt
(TAZ)
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Die Sache ist offenbar nicht so gerichtlich ausgestanden, wie die taz seinerzeit gemeint hat.
SPIEGEL Heft 7/2011 vom 14.02.2011, S. 96ff.
Katja Thimm: Hi and Salam alaikum
Vier Monate lang wohnte eine Journalistin aus Oslo bei einem Buchhändler in Kabul. Sie schrieb einen Bestseller über das Innenleben der Familie, das sie als unerträglich rückständig empfand. Der Mann fühlt sich verraten. Nun entscheiden Gerichte im Streit zweier Kulturen
...
Bald litt sie mit den Frauen, die ihr nur im Hamam befreit erschienen. Immer stärker roch sie die beklemmenden ranzigen Küchendüfte, immer häufiger erfuhr sie von gräulichen Familiengeschichten. Wandelbar wie ein Chamäleon erschien ihr dieser Mann, der in seinem Laden die Toleranz verkörperte und zu Hause Kinder, zwei Ehefrauen und eine Vielzahl abhängiger Verwandter tyrannisierte. Statt seiner jungen Schwester den Schulbesuch zu ermöglichen, beutete er sie im Haushalt aus. Er nahm eine Siebzehnjährige zur Zweitfrau, weil die erste Gattin alt wurde. Wie ein Stein, in Todesangst gelähmt, wirkte das junge Mädchen bei der Brautwerbung, es wusste, dass es den Mann nicht wollte. Jedenfalls sah Åsne Seierstad all das nun so.
Und auch von entsetzlichen Verbrechen erfuhr sie während dieser Zeit. Eine Schwägerin der ersten Frau war von ihren Brüdern mit einem Kissen erstickt worden, weil sie ihrem Mann untreu gewesen war. Der älteste Sohn war Zeuge, als ein Bekannter in der Abseite eines Ladens eine Bettlerin vergewaltigte. Eine befreundete Nachbarin verlor nach einem Rendezvous auf einer Parkbank beinahe ihr Leben. "Sie liegt eingeschlossen in einem Hinterzimmer. Blutergüsse im Gesicht und geschwollene rote Striemen auf dem Rücken", schrieb Åsne Seierstad, als sie ihre Notizen schließlich zusammenfügte.
...
"Ich billige diese Dinge auch nicht", sagt der Mann auf dem geblümten Sofa im Landlord Hotel. "Aber bei uns spricht man unter keinen Umständen über so etwas."
Nach seinem Verständnis vom richtigen Leben hat die Norwegerin ein unbedingtes Tabu gebrochen. Sie hat die Streitigkeiten und die Sexualität einer Familie preisgegeben. "Und", sagt er, es ist vielleicht sein schlimmster Vorwurf, "sie hat meine Gastfreundschaft missbraucht." Gastfreundschaft zählt zu den wichtigsten Prinzipien des Paschtunwali: Für Shah Muhammad Rais ist es unvorstellbar, jemanden abzuweisen - doch umgekehrt darf ein Gast dem Gastgeber unter keinen Umständen schaden. Aber wie soll ein norwegischer Richter darüber urteilen?
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Die Sache ist offenbar nicht so gerichtlich ausgestanden, wie die taz seinerzeit gemeint hat.
SPIEGEL Heft 7/2011 vom 14.02.2011, S. 96ff.
Katja Thimm: Hi and Salam alaikum
Vier Monate lang wohnte eine Journalistin aus Oslo bei einem Buchhändler in Kabul. Sie schrieb einen Bestseller über das Innenleben der Familie, das sie als unerträglich rückständig empfand. Der Mann fühlt sich verraten. Nun entscheiden Gerichte im Streit zweier Kulturen
...
Bald litt sie mit den Frauen, die ihr nur im Hamam befreit erschienen. Immer stärker roch sie die beklemmenden ranzigen Küchendüfte, immer häufiger erfuhr sie von gräulichen Familiengeschichten. Wandelbar wie ein Chamäleon erschien ihr dieser Mann, der in seinem Laden die Toleranz verkörperte und zu Hause Kinder, zwei Ehefrauen und eine Vielzahl abhängiger Verwandter tyrannisierte. Statt seiner jungen Schwester den Schulbesuch zu ermöglichen, beutete er sie im Haushalt aus. Er nahm eine Siebzehnjährige zur Zweitfrau, weil die erste Gattin alt wurde. Wie ein Stein, in Todesangst gelähmt, wirkte das junge Mädchen bei der Brautwerbung, es wusste, dass es den Mann nicht wollte. Jedenfalls sah Åsne Seierstad all das nun so.
Und auch von entsetzlichen Verbrechen erfuhr sie während dieser Zeit. Eine Schwägerin der ersten Frau war von ihren Brüdern mit einem Kissen erstickt worden, weil sie ihrem Mann untreu gewesen war. Der älteste Sohn war Zeuge, als ein Bekannter in der Abseite eines Ladens eine Bettlerin vergewaltigte. Eine befreundete Nachbarin verlor nach einem Rendezvous auf einer Parkbank beinahe ihr Leben. "Sie liegt eingeschlossen in einem Hinterzimmer. Blutergüsse im Gesicht und geschwollene rote Striemen auf dem Rücken", schrieb Åsne Seierstad, als sie ihre Notizen schließlich zusammenfügte.
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"Ich billige diese Dinge auch nicht", sagt der Mann auf dem geblümten Sofa im Landlord Hotel. "Aber bei uns spricht man unter keinen Umständen über so etwas."
Nach seinem Verständnis vom richtigen Leben hat die Norwegerin ein unbedingtes Tabu gebrochen. Sie hat die Streitigkeiten und die Sexualität einer Familie preisgegeben. "Und", sagt er, es ist vielleicht sein schlimmster Vorwurf, "sie hat meine Gastfreundschaft missbraucht." Gastfreundschaft zählt zu den wichtigsten Prinzipien des Paschtunwali: Für Shah Muhammad Rais ist es unvorstellbar, jemanden abzuweisen - doch umgekehrt darf ein Gast dem Gastgeber unter keinen Umständen schaden. Aber wie soll ein norwegischer Richter darüber urteilen?
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Und, im selben SPIEGEL-Heft, auf S. 79:
AFGHANISTAN - Kampf dem Knabenspiel
Präsident Hamid Karzai hat versprochen, die Rekrutierung von Jungen für Polizei und Armee künftig zu verhindern - und damit den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Vorgesetzte zu stoppen. In letzter Zeit waren wieder mehr junge Afghanen - teilweise gerade mal neun Jahre alt - mit falschen Papieren in die Dienste eingeschleust worden, um so die Zahl der Polizisten und Soldaten zu erhöhen und der westlichen Forderung nach Ausbau der nationalen Sicherheitskräfte zu genügen. In Wirklichkeit werden die Knaben als Sex-Sklaven beim sogenannten Bacha Bazi eingesetzt, einer Tradition in weiten Teilen des Landes, die übersetzt so viel wie "Knabenspiel" heißt: Dabei müssen die Jungen vor älteren Kommandeuren tanzen; die Vorgesetzten nehmen die Kinder dann mit nach Hause und missbrauchen sie. Die Familien der Jungen akzeptieren dies oft, weil sie sich bessere Karrierechancen für ihre Söhne erhoffen.
Präsident Hamid Karzai hat versprochen, die Rekrutierung von Jungen für Polizei und Armee künftig zu verhindern - und damit den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Vorgesetzte zu stoppen. In letzter Zeit waren wieder mehr junge Afghanen - teilweise gerade mal neun Jahre alt - mit falschen Papieren in die Dienste eingeschleust worden, um so die Zahl der Polizisten und Soldaten zu erhöhen und der westlichen Forderung nach Ausbau der nationalen Sicherheitskräfte zu genügen. In Wirklichkeit werden die Knaben als Sex-Sklaven beim sogenannten Bacha Bazi eingesetzt, einer Tradition in weiten Teilen des Landes, die übersetzt so viel wie "Knabenspiel" heißt: Dabei müssen die Jungen vor älteren Kommandeuren tanzen; die Vorgesetzten nehmen die Kinder dann mit nach Hause und missbrauchen sie. Die Familien der Jungen akzeptieren dies oft, weil sie sich bessere Karrierechancen für ihre Söhne erhoffen.
Hätte man gedacht, dass in einem durch und durch muslimisch geprägten Land die sexuelle Ausbeutung von Knaben eine sozusagen altgriechische und zugleich katholische Tradition besitzt? Darüber darf man dann auch nicht sprechen?
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