Dienstag, 14. November 2017

Die Ursachen reichen immer tiefer!

Das ist der Anfang eines journalistischen Textes, den ich sehe, und sofort kann ich die Feindseligkeiten zwischen (manchen) Sprachempfindlichen und (manchen) Journalisten nachvollziehen.* 

Die ZEIT und ihr Autor also:

--

"Wohnungslosigkeit: 860.000 Menschen in Deutschland haben keine Wohnung Die Zahl der Wohnungslosen hat sich seit 2014 mehr als verdoppelt. Ein Grund ist die Zuwanderung. Doch die Ursachen reichen tiefer. Von Lukas Koschnitzke." (zeit.de)

--

Was stört an diesen Zeilen? Nun, wenn ich sie lese, dann habe ich das Gefühl, über flache, zerbrochene, in mehreren Schichten übereinanderliegende Glasplatten zu gehen. Alles ist fest und doch so, dass ich das Gefühl habe, jederzeit ausgleiten zu können, hinzufallen dann, mitten hinein in dieses flache Glas. Eine sehr unangenehme Unsicherheit!

Gut, das ist ein vages Bild und wahrscheinlich nicht nachvollziehbar. Darum anders: "Ein Grund ist die Zuwanderung. Doch die Ursachen reichen tiefer." Hier wird die Zuwanderung prominent herausgestellt und, ob man will oder nicht: Sie sind erst mal da, die Zuwanderer, und sie sind offenbar ein wichtiger Punkt. Der wichtigste Punkt? 

Dann aber auch: "...die Ursachen reichen tiefer". Jesses na! Die Ursachen reichen immer 'tiefer'! Und noch, und noch ... Irgendwann sind wir beim Menschen an sich und bei dessen Ungleichheit an und für sich. Und noch weiter: Das Nomadentum des Urmenschen, seine, jaha: Unbehaustheit, die wir heute noch kennen. Es ist einfach kein Halten mehr beim Weiterdenken! Es bleibt: Was immer passt, das ergibt keinen Sinn.

Sind das genau die Hinweise, die das Gefühl des Gehens über Glasplatten verständlich machen? In aller Kürze? Ich hoffe mal.

Und nun geht die Sache erst los, aber schon bin ich voreingenommen! Da kann ich einfach nichts machen.

"Die Zuwanderung wirkt sich laut Geschäftsführer Specht zwar verstärkend auf die Probleme des Wohnungsmarkts aus. 'Aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung.'"

Schon wieder liegt was als Grund tiefer, nämlich im 'Jahrzehnte verfehlten'. Nur eben: Dahinter steht eine Großfrage, die umschifft wird, wie eine Klippe, die es nicht geben darf: Was tun? Einfache Wohnungen bauen und allen Obdachlosen eine Grundversorgung in bar in die Hand drücken? Mal abgesehen von der Frage: Macht da die arbeitende Bevölkerung mit und bezahlt das willig -- wären damit die sozialen Probleme rund um die Obdachlosigkeit aus der Welt? Wo liegen diese Probleme? Darin, dass es manche rausträgt, weil sie die vielgescholtenen Primärtugenden nicht drauf haben? Weil Quartiere, die zur Verfügung gestellt werden, nach kurzer Zeit verrotten und im Müll vergammeln?

"22.06.2015 Roma-Familien in maroden Häusern. Senat zählt 49 Schrotthäuser || In Berlin gibt es viele 'Schrottimmobilien' mit zugewanderten Roma-Familien. Zwei Häuser konnten bislang befriedet und saniert werden. Der Senat will die Grunewaldstraße 87 nicht zum gefährlichen Ort erklären. VON THOMAS LOY || Das Leben in Berliner Schrotthäusern, in überfüllten, zugigen Wohnungen ohne Strom und Heizung, ist immer noch besser als zu Hause in Bulgarien oder Rumänien. Seit Jahren strömen Roma-Familien und junge Roma-Männer nach Berlin, weil sie hier leichter an Geld kommen als zu Hause, mit Betteln oder als Handlanger auf dem Bau. Weil sie EU-Bürger sind, haben sie das Recht, nach Deutschland zu kommen, auch wenn sie die Sprache nicht sprechen und wenig Chancen haben, einen regulären Job zu finden." (tagesspiegel.de)

---

* Für Interessierte: Der echte oder gespielte Hass von Karl Kraus -- ja, der mit der Journaille -- auf die Journalisten und die etwas epigonenhafte Berufung auf Karl Kraus bei Helmut Arntzen (Karl Kraus und die Presse, 1975) und manchen seiner Schüler. (Gibt es bei Arntzen Schülerinnen? Nein, ich glaube nicht.)