Warum wird die Linguistik von Juristen so selten bei der Frage herangezogen, was ein -- oft entscheidendes und manchmal über Leben und Tod entscheidendes -- Wort bedeutet? Was beispielsweise bedeutet das Wort unzurechnungsfähig? Ist jemand unzurechnungsfähig, dann trägt er für sein Handeln keine Verantwortung. Wenn nicht unzurechnungsfähig, dann kann er in den USA und in anderen Ländern zum Tod verurteilt werden.
"Bonne Terre - Das Leben des Cecil Clayton hing an einer Richterstimme. Mit 4:3 Stimmen entschied das Oberste Gericht des US-Bundesstaats Missouri am vergangenen Wochenende dagegen, die Hinrichtung des 74-Jährigen in letzter Minute zu stoppen. Am Dienstagabend wurde Clayton mit einer Giftspritze getötet. || Der Mann hatte 1996 einen Hilfssheriff erschossen und wurde deshalb zum Tode verurteilt. Seine Anwälte kämpften jahrelang gegen die Tötung ihres Mandanten. Sie argumentierten, dass Clayton unzurechnungsfähig sei. Das Oberste Gericht von Missouri sah das anders, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erklärte sich für nicht zuständig. Auch Gouverneur Jay Nixon verweigerte die Begnadigung des Verurteilten. | Clayton hatte sich 1972 bei einem Unfall in einem Sägewerk schwer verletzt. Er verlor etwa acht Prozent seines Gehirns, darunter ein Fünftel des Stirnlappens, der die Impulskontrolle und das Urteilsvermögen steuert. Sein Bruder gab an, dass sich Clayton seit dem Unfall radikal verändert habe. Er ließ sich scheiden, wurde alkoholabhängig und gewalttätig." (SPIEGEL Online)
Warum also fragt keiner die Linguisten? Nun, wahrscheinlich, weil a) die Juristen glauben, dass sie genug sprachliche Fähigkeiten haben, um die Bedeutung von unzurechnungsfähig fachintern und für den praktischen Prozessablauf zu bestimmen. Und b) weil die Linguistik kein Instrumentarium hat, um eine Begriffsanalyse so durchzuführen, dass sie von Juristen verstanden und akzeptiert werden kann. Seltsames Fach, die Linguistik! Noch seltsameres Fach: Jura.