Montag, 20. August 2018

Zwei SZ-Rezensionen

Manchmal ärgere ich mich über die SZ, dass ich noch am selben Tag das Abo kündigen möchte! Ich tu es dann doch nicht. Aber all dieses gutmenschliche, besserwisserische Getue, Geraune, Gejammere der Polit-Redaktion -- manchmal geht es mir gewaltig auf die Nerven!

Aber dann wieder Tage wie dieser: Das Feuilleton! Eine Seite reicht und der Schmerz ist vergessen!


Zwei Rezensionen, direkt nebeneinander. Sowas von kunstvoll geschrieben, dass ich niederknien möchte! Was ja nicht heißt, dass ich an manchen Stellen nicht hängenbleibe und ein 'So doch nicht!' murmele. Aber das spielt keine Rolle angesichts des Ganzen.

Blick auf die Buchangabe am Schluss der Besprechungen:

He­le­ne He­ge­mann: Bun­ga­low. Ro­man. Han­ser Ber­lin Ver­lag, Mün­chen 2018. 288 Sei­ten, 23 Eu­ro. Rezensentin: Marie Schmidt.

Da kann ich schon mal kichern. Da hat die Rezensentin noch kein Wort gesagt. Han­ser Ber­lin Ver­lag, Mün­chen. Das muss man auch erst mal hinbekommen!

Sodann:

Mai­ke Wet­zel: El­ly. Ro­man. Ver­lag Schöff­ling & Co., Frank­furt am Main 2018. 148 Sei­ten, 20 Euro. Rezensent: Christoph Schröder.

Lob also, wem Lob gebührt!

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Lauter anständige Leute

Helene Hegemanns dritter Roman „Bungalow“ über eine katastrophenschwangere Zukunft und die Spaltung der Gesellschaft wächst sich zu einem Katalog der Ängste aus


VON MARIE SCHMIDT


Von dem russischen Dichter Daniil Charms, der ein tragisches Leben führen musste und 1942 im Gefängnis verhungerte, gibt es einen berühmten Text, an den Helene Hegemanns neues Buch erinnert. Er geht so: „Einmal überaß sich Orlow an Erbsenbrei und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und landete auf der Straße. Und Michajlow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegrafisch vierhundert Rubel und machte sich derart wichtig, daß man ihn aus dem Dienst warf. Lauter anständige Leute, und bekommen kein Bein auf den Boden.“


So eine Parade des Unglücks ist auch „Bungalow“, der dritte Roman Hegemanns.


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Geht es noch besser? Kaum.

Dann gehe ich nach der Lektüre zur vergleichenden Rezensionswissenschaft über.

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Im Mit­tel­punkt steht, wie schon in He­ge­manns frü­he­ren Bü­chern, ein drei­zehn­jäh­ri­ges Kind, das un­ter Be­din­gun­gen so­zia­ler Ver­wahr­lo­sung zu früh er­wach­sen wird. Die Mut­ter die­ser Char­lie ist grau­sam über­for­dert, das Mäd­chen wird ag­gres­siv vor Ver­zweif­lung und die bei­den ste­hen sich in ei­nem er­bit­ter­tem Exis­tenz­kampf ge­gen­über. Das ist ein wie­der­keh­ren­des Mo­tiv der He­ge­mann-Ro­ma­ne, so dass sie rück­bli­ckend fast so et­was wie ei­ne Tri­lo­gie der ver­nach­läs­sig­ten Für­sor­ge­pflicht er­ge­ben.

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Auch in „El­ly“, dem ers­ten Ro­man der deut­schen Au­to­rin Mai­ke Wet­zel, ver­schwin­det ein Kind auf dem Weg zum Sport. Wet­zel er­zählt die Ge­schich­te vom Ver­lust ei­nes Kin­des im re­por­ta­ge­haf­ten Dau­er­prä­sens und aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven als Fa­mi­li­en­dra­ma. Da ist Ines, El­lys zwei Jah­re äl­te­re Schwes­ter, die sich den Tag des Ver­schwin­dens ih­rer Schwes­ter in al­len De­tails vor­stellt (das stärks­te Ka­pi­tel des Ro­mans). Wie ih­re Mut­ter Ju­dith und ihr Va­ter Ha­mid, ist sie Teil ei­ner Lei­dens­ge­schich­te, die mit der so­zia­len Ver­wahr­lo­sung der Fa­mi­lie zu­sam­men­hängt.

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Das haben die beiden Rezensenten doch gewiss nicht abgesprochen. Also doch -- Zufall? Oder Hinweis auf den Zeitgeist?

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In ei­ner Art psy­cho­ana­ly­ti­scher Ur­sze­ne be­ob­ach­tet das Mäd­chen in ei­nem die­ser Bun­ga­lows ein Paar aus der Kul­tur­schi­cke­ria, das sich liebt. Da ver­liebt sie sich schlag­ar­tig selbst. In ih­ren Wor­ten: „Ich woll­te nicht ad­op­tiert wer­den von de­nen. Echt nicht. Ich woll­te die fi­cken“. Dass sich die­ser Wunsch er­füllt, er­fährt der Le­ser auf der ers­ten Sei­te des Ro­mans. Und wüss­te, falls er von so et­was nicht leicht zu scho­ckie­ren ist, ei­gent­lich ger­ne, wie ge­nau die­se Drei­er­be­zie­hung ver­läuft. Zu­mal der Ro­man mit den in­ter­es­san­ten Le­bens­ge­schich­ten des Paa­res be­ginnt. Ge­mes­sen am ma­ni­schen Kraft­quat­schen frü­he­rer He­ge­mann-Ro­ma­ne, er­zählt sie da ganz ent­spannt, ge­ra­de­zu auf­ge­räumt. Ein­wand­frei apho­ris­ti­sche Sät­ze ste­hen dar­in, wie: „Er war kri­mi­nell und im übels­ten Ma­ße ver­ein­samt, er wur­de wirk­lich zu Un­recht ge­liebt.“

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Mai­ke Wet­zel, Jahr­gang 1974, ist ei­ne Ro­man­de­bü­tan­tin, aber kei­ne An­fän­ge­rin. Mit „Hoch­zei­ten“ (2000) und „Lan­ge Ta­ge“ (2003) hat sie zwei durch­aus be­mer­kens­wer­te Er­zäh­lungs­bän­de ver­öf­fent­licht, be­vor sie an der Mün­che­ner Film­hoch­schu­le stu­dier­te und sich der Dreh­buch- und Re­gie­ar­beit zu­wand­te. Man wür­de ihr al­so ein Ge­spür für Auf­bau und Dra­ma­tur­gie zu­trau­en. Um­so er­staun­li­cher, dass sie in ih­rem Ro­man­de­büt nicht nur ei­nen Hang zu be­deu­tungs­schwan­ge­ren Hohl­sät­zen ent­wi­ckelt („Roll­trep­pen sind wie Göt­ter. Men­schen lie­fern sich ih­nen aus“). Sie hat auch gleich meh­re­re gra­vie­ren­de er­zähl­stra­te­gi­sche Fehl­ent­schei­dun­gen ge­trof­fen.

Die fan­gen da­mit an, dass Wet­zel den Ro­man aus der Per­spek­ti­ve ei­ner Fi­gur er­öff­net, die mit dem ei­gent­li­chen Ge­sche­hen nichts zu tun hat und auch nicht mehr auf­taucht: Ines, zu die­sem Zeit­punkt 14 Jah­re alt, zwingt ei­ne Zim­mer­ge­nos­sin bei ei­nem Kran­ken­haus­auf­ent­halt kur­zer­hand, die Rol­le von El­ly ein­zu­neh­men. Das Mäd­chen heißt Al­mut und be­trach­tet die so ver­schlos­se­ne wie selbst­si­che­re Ines als ih­re „Göt­tin“. 

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Und nun? Archivieren, diese beiden Besprechungen! Das Gefühl haben, noch einmal darauf zurückkommen zu müssen ...

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