Manchmal ärgere ich mich über die SZ, dass ich noch am selben Tag das Abo kündigen möchte! Ich tu es dann doch nicht. Aber all dieses gutmenschliche, besserwisserische Getue, Geraune, Gejammere der Polit-Redaktion -- manchmal geht es mir gewaltig auf die Nerven!
Aber dann wieder Tage wie dieser: Das Feuilleton! Eine Seite reicht und der Schmerz ist vergessen!
Zwei Rezensionen, direkt nebeneinander. Sowas von kunstvoll geschrieben, dass ich niederknien möchte! Was ja nicht heißt, dass ich an manchen Stellen nicht hängenbleibe und ein 'So doch nicht!' murmele. Aber das spielt keine Rolle angesichts des Ganzen.
Blick auf die Buchangabe am Schluss der Besprechungen:
Helene Hegemann: Bungalow. Roman. Hanser Berlin Verlag, München 2018. 288 Seiten, 23 Euro. Rezensentin: Marie Schmidt.
Da kann ich schon mal kichern. Da hat die Rezensentin noch kein Wort gesagt. Hanser Berlin Verlag, München. Das muss man auch erst mal hinbekommen!
Sodann:
Maike Wetzel: Elly. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 148 Seiten, 20 Euro. Rezensent: Christoph Schröder.
Lob also, wem Lob gebührt!
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Lauter anständige Leute
Helene Hegemanns dritter Roman „Bungalow“ über eine katastrophenschwangere Zukunft und die Spaltung der Gesellschaft wächst sich zu einem Katalog der Ängste aus
VON MARIE SCHMIDT
Von dem russischen Dichter Daniil Charms, der ein tragisches Leben führen musste und 1942 im Gefängnis verhungerte, gibt es einen berühmten Text, an den Helene Hegemanns neues Buch erinnert. Er geht so: „Einmal überaß sich Orlow an Erbsenbrei und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und landete auf der Straße. Und Michajlow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegrafisch vierhundert Rubel und machte sich derart wichtig, daß man ihn aus dem Dienst warf. Lauter anständige Leute, und bekommen kein Bein auf den Boden.“
So eine Parade des Unglücks ist auch „Bungalow“, der dritte Roman Hegemanns.
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Geht es noch besser? Kaum.
Dann gehe ich nach der Lektüre zur vergleichenden Rezensionswissenschaft über.
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Im Mittelpunkt steht, wie schon in Hegemanns früheren Büchern, ein dreizehnjähriges Kind, das unter Bedingungen sozialer Verwahrlosung zu früh erwachsen wird. Die Mutter dieser Charlie ist grausam überfordert, das Mädchen wird aggressiv vor Verzweiflung und die beiden stehen sich in einem erbittertem Existenzkampf gegenüber. Das ist ein wiederkehrendes Motiv der Hegemann-Romane, so dass sie rückblickend fast so etwas wie eine Trilogie der vernachlässigten Fürsorgepflicht ergeben.
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Auch in „Elly“, dem ersten Roman der deutschen Autorin Maike Wetzel, verschwindet ein Kind auf dem Weg zum Sport. Wetzel erzählt die Geschichte vom Verlust eines Kindes im reportagehaften Dauerpräsens und aus verschiedenen Perspektiven als Familiendrama. Da ist Ines, Ellys zwei Jahre ältere Schwester, die sich den Tag des Verschwindens ihrer Schwester in allen Details vorstellt (das stärkste Kapitel des Romans). Wie ihre Mutter Judith und ihr Vater Hamid, ist sie Teil einer Leidensgeschichte, die mit der sozialen Verwahrlosung der Familie zusammenhängt.
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Das haben die beiden Rezensenten doch gewiss nicht abgesprochen. Also doch -- Zufall? Oder Hinweis auf den Zeitgeist?
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In einer Art psychoanalytischer Urszene beobachtet das Mädchen in einem dieser Bungalows ein Paar aus der Kulturschickeria, das sich liebt. Da verliebt sie sich schlagartig selbst. In ihren Worten: „Ich wollte nicht adoptiert werden von denen. Echt nicht. Ich wollte die ficken“. Dass sich dieser Wunsch erfüllt, erfährt der Leser auf der ersten Seite des Romans. Und wüsste, falls er von so etwas nicht leicht zu schockieren ist, eigentlich gerne, wie genau diese Dreierbeziehung verläuft. Zumal der Roman mit den interessanten Lebensgeschichten des Paares beginnt. Gemessen am manischen Kraftquatschen früherer Hegemann-Romane, erzählt sie da ganz entspannt, geradezu aufgeräumt. Einwandfrei aphoristische Sätze stehen darin, wie: „Er war kriminell und im übelsten Maße vereinsamt, er wurde wirklich zu Unrecht geliebt.“
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Maike Wetzel, Jahrgang 1974, ist eine Romandebütantin, aber keine Anfängerin. Mit „Hochzeiten“ (2000) und „Lange Tage“ (2003) hat sie zwei durchaus bemerkenswerte Erzählungsbände veröffentlicht, bevor sie an der Münchener Filmhochschule studierte und sich der Drehbuch- und Regiearbeit zuwandte. Man würde ihr also ein Gespür für Aufbau und Dramaturgie zutrauen. Umso erstaunlicher, dass sie in ihrem Romandebüt nicht nur einen Hang zu bedeutungsschwangeren Hohlsätzen entwickelt („Rolltreppen sind wie Götter. Menschen liefern sich ihnen aus“). Sie hat auch gleich mehrere gravierende erzählstrategische Fehlentscheidungen getroffen.
Die fangen damit an, dass Wetzel den Roman aus der Perspektive einer Figur eröffnet, die mit dem eigentlichen Geschehen nichts zu tun hat und auch nicht mehr auftaucht: Ines, zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt, zwingt eine Zimmergenossin bei einem Krankenhausaufenthalt kurzerhand, die Rolle von Elly einzunehmen. Das Mädchen heißt Almut und betrachtet die so verschlossene wie selbstsichere Ines als ihre „Göttin“.
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Und nun? Archivieren, diese beiden Besprechungen! Das Gefühl haben, noch einmal darauf zurückkommen zu müssen ...
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