Donnerstag, 28. Januar 2021

Manspreading?

1. Haben wir momentan keine anderen Sorgen? - 2. Gibt dieses "Manspreading" wirklich?

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Meldung:

Gesellschaft. Berlinerinnen setzen mit Hosen und Humor Zeichen gegen „Manspreading“. Wenn Männer sich breitmachen: Zwei Designerinnen aus Berlin wollen sich raumgreifende Macho-Gesten im öffentlichen Nahverkehr nicht länger gefallen lassen. || Caroline Bock, dpa, 28.1.2021. || BerlinViele Frauen kennen das. Sie sitzen in der U-Bahn oder im Bus, die Beine eng beisammen oder übereinandergeschlagen. Das männliche Gegenüber oder der Sitznachbar fläzt sich hin, macht die Beine breit und nimmt mehr Platz ein als nötig. Das Phänomen hat seit einigen Jahren einen globalen Namen: „Manspreading“. | Gegen dieses „Ausbreiten des Mannes“ in Bus und Bahn gab es in Städten wie New York, Madrid und Wien schon Kampagnen. In Berlin klärten die Verkehrsbetriebe ihre Fahrgäste bei Facebook auf, dass es für das Breitmachen keine anatomischen Gründe gebe. Sie forderten: „Knie zusammen, ihr Dödel!“ (berliner-zeitung.de)
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Ich habe den Verdacht, dass es eine Organisation "Wir brauchen eine neue Sau, die wir durch's Dorf treiben können!" gibt. Oberste Aufgabe dieser geheimen Organisation ist es, von Zeit zu Zeit Reizthemen zu setzen. Ich meine -- wer hat bevor es diese neue Mode und das doof-zeitgemäße Wort gab, von diesem Phänomen gehört? Natürlich mag es Männer gegeben haben, die sich, wie auch immer, unangenehm ausbreiten. Generell gibt es unangenehme und angenehme Menschen. Aber wieviel Prozent der Männer in öffentlichen Verkehrsmitteln sind das denn? Gibt es dazu irgendeine Untersuchung? Sowas wie beim Wiener STANDARD gilt natürlich nicht. Wenn suggestiv gefragt wird, bekommt man die Antworten, die man braucht.

Und natürlich lässt die Retourkutsche nicht auf sich warten! She-Bagging.

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Frauen haben im ÖPNV eine ganz eigene Freiraum-sichernde Strategie entwickelt, die auch ich schon beobachten konnte: Die Angewohnheit, die Hand- oder Einkaufstasche (engl. Bag) auf dem Platz neben sich zu deponieren und somit zwei Sitzflächen zu blockieren. Bittet man/ frau dann um Wegnahme der Tasche, um selbst Platz nehmen zu dürfen, wird diesem Wunsch oft nur mürrisch und widerwillig begegnet. Da auch dies keine Seltenheit im ÖPNV darstellt, wurde für diese Unart ebenfalls ein Kofferwort kreiert: das ist das sogenannte ‚She-Bagging‘. (gluecksteinpraxis.de)

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Ich glaube, ich gründe eine Partei! Für eine Gesellschaft, die ohne permanente Vorwürfe und Aufgeregtheiten auskommt. Vielleicht tut's ja auch ein Dorf, das nach der Devise Leben und Leben lassen sich einrichtet.

Dienstag, 12. Januar 2021

Die Unwörter des Jahres 2020

Aus der Wikipedia-Diskussion und da aus gegebenem Anlass: 

Rückführungspatenschaften« und »Corona-Diktatur« sind . Das hat die Jury der sprachkritischen Aktion bekannt gegeben. Die Corona-Pandemie sei dominierendes Thema der 1826 bis zum 31. Dezember eingegangenen Einsendungen mit 625 unterschiedlichen Vorschlägen gewesen, sagte eine Sprecherin. Zuvor war bereits »Corona-Pandemie« von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres gewählt worden. (spiegel.de) 

Ich habe keine Lust, mich jetzt durch endlose Zeitungskommentare durchzuarbeiten. Aber: Es muss einfach eine Einordung der Unwort-Kürung geben: Wie viele andere Ansätze geht es um Versuche, in die Sprachentwicklung einzugreifen und nach erlaubt / unerlaubt, positiv / negativ, fortschrittlich / rückschrittlich zu sortieren. Das dient nicht selten den Machern, die einfach Publicity wollen. Man konnte das sehr schön ablesen an dem "Schönsten deutsches Wort der deutschen Sprache". Da hat Jutta Limbach zum Amtsantritt beim Goethe-Institut geschickt was Öffentlichkeitswirksames kreiert. Langenscheidt bekommt mit seinem Jugendwort des Jahres immer wieder kostenlose Werbung in den Blättern. Wissenschaftlich gesehen sind derartige Unternehmungen vom Ansatz und Ergebnis her bestenfalls zum Schmunzeln. Auch die Rechtschreibreform 1996 würde ich da, bei den Eingriffen in die Sprachentwicklung, einordnen. Und die GfdS hatte jedes Jahr ihre recht große Aufmerksamkeit. Die Entwicklung ist im vorliegenden WP-Artikel schön erfasst: "Nach Konflikt mit dem Vorstand der GfdS machte sich die Jury als 'Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres' selbständig." 

Dass da versucht wird, Einfluss zu nehmen, ist ok. Es gehört zu einer freien Gesellschaft dazu, auch zur freien Meinungsäußerung. Genauso wie die Kritik an derartigen Versuchen zugelassen und dokumentiert werden sollte. Was m. E. aber nicht geht, das ist: Da irgend etwas "Sprachwissenschaftliches" zu sehen. Alle Sprachkämpfe sind normale politische Auseinandersetzungen. Die Wissenschaft kann und sollte diese Auseinandersetzungen beobachten und systematisierend dokumentieren; Partei ergreifen kann sie nach meinem Wissenschaftsverständnis nicht, wenn sie denn nicht zur Ideologie einer Gruppe oder Richtung werden bzw. in verschiedene Richtungen zerfallen will.

Sonntag, 10. Januar 2021

Cohn-Bendits Dämonen

Ich lese - Weihnachtsgeschenk - das Fußballbuch von C-B. Nach etwa der Hälft: Ich bin belustigt. Über diese stupende Einarbeitung in die Fußballgeschichte. Und über die selbstsichere Haltung, mit der C-B sich selbst hochleben lässt. Wen er nicht alles kennt. Und Sócrates, der Fußballgott, kennt den gottgleichen 68er C-B natürlich und preist ihn als großen Revolutionär!

Da schaue ich noch einmal an der Stelle nach.

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... in der französischen ­Kultursendung «Apostrophe» von 1982. Sie sagen da, dass Sie ein Haschischbiskuit intus hätten und erzählen, wie Sie im antiautoritären Kindergarten mit Kindern Sexualität entdecken würden.

Sehen Sie, nein! Sie schildern das falsch. Nicht wie ich, sondern wie die Kinder die Sexualität entdecken! Das ist nicht das Gleiche. In dieser Sendung erzähle ich, wie die Kinder ihre Sexualität entdecken, und mokiere mich über die Reaktionen der Erwachsenen darauf.

Ähnliches beschrieben Sie 1975 in Ihrem Buch «Der Grosse Basar», das seit einigen Jahren unter Verdacht steht, pädophile Handlungen zu ­verherrlichen.

Eines mal vorweg: Diese Passagen waren nicht so gemeint, wie sie heute interpretiert werden. Überhaupt, das ganze Buch war nicht so gemeint, es war auch nicht nur Provokation, es gibt darin Kapitel über jüdische Identität in Israel, ein Thema, das mich heute wieder beschäftigt. Das Buch hat übrigens, als es herauskam, niemanden provoziert, es war überhaupt kein Skandal. (ewahess.ch)

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"Überhaupt, das ganze Buch war nicht so gemeint ..." Je nun, wenn sich "einverständliche Pädophilie" als legal und, ja, als fortschrittlich durchgesetzt hätte -- und ich bin der Auffassung, dass das aus der Sicht damals betrachtet, durchaus eine Möglichkeit war -- dann würde sich C-B heute für seine Weitsicht und Progressivität preisen lassen.

Dr. Sócrates Tod

Ich lese also Cohn-Bendits Fußball-Buch. ("Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik - mein Leben". - Ein Weihnachtsgeschenk. So leicht wäre ich selbst wohl nicht auf dieses Buch gekommen.) Immer wieder einmal lächelnd ob der vollkommen ungebremsten Selbstbeweihräucherung unseres Verfassers und Helden Daniel. Bei dem brasilianischen Fußballspieler und Kinderarzt, ein "Freund" von C-B, wie so viele, schaue ich mal bei der Wikipedia nach. Da findet sich das:

Im Jahre 1983 antwortete Sócrates in einem Interview auf die Frage wie er sterben wolle mit: "Ich möchte an einem Sonntag sterben und Corinthians (São Paulo) soll Meister werden". Sócrates starb [2011] an einem Sonntag, wenige Stunden danach gewann Corinthians die Meisterschaft. (Wikipedia)

Das schöne: Die sonst so sachliche Wikipedia kommt nicht darum herum, einen solchen "Zufall" mit aufzunehmen. Die Macht des Faktischen lässt sich auch von der Ideologie der Aufklärung nicht so leicht brechen.

Ach, und wenn ich schon mal dabei bin: Cohn-Bendit lobt natürlich die Demokratie-Reform*, die Sócrates bei seinem Verein Corinthians  etabliert hat, in den höchsten Tönen.

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"Von da an wurde ein System der Selbstverwaltung installiert, in dem Spieler, sportliche Leitung und Direktorium wichtige Entscheidungen wie Neuverpflichtungen, Entlassungen, Aufstellungen oder Versammlungsort durch Votum trafen. Ein wichtiger Aspekt war, dass jede Stimme eines Spielers, Trainers oder Funktionärs gleich gewichtet war." (Wikipedia)

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Wie gut, dass die Wikipedia auch die Kritik an dieser Reform mit überliefert:

Trotz aller Verehrung seitens der Medien und des Großteils der Fußballanhänger wurde die Bewegung auch von Sportlern wie den Torwarten Emerson Leão und Rafael Cammarota kritisiert: 

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„Von Demokratie hatte das nichts. Es half denen, die die Anführer waren, aber die anderen klatschten nur die Hände. Die Democracia Corinthiana hatte die vier Falschspieler: Sócrates, Wladimir und Casagrande, der ein Schwätzer war, außerdem Adilson Monteiro Alves.“ 

Rafael Cammarota

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Es ist einfach tragisch! Da gibt es Revolutionen, und die Revolutionäre preisen sich gegenseitig selbst in den höchsten Tönen. Dann aber kommen Kritiker und sagen: Auch diese Revolutionäre haben die Revolution nur benutzt, um ihr Ego noch ein wenig größer zu machen. Und man kann den Kritikern eigentlich nicht widersprechen. Nicht war, Daniel?