Samstag, 16. Dezember 2006

Eine Geschichte, die so beginnt?

Er könnte, überlegte er, doch damit anfangen, seine Autobiographie zu schreiben. Er war jetzt 57 Jahre alt. Natürlich ein wenig jung für einen solchen Lebensbericht. Aber doch auch wieder nicht zu jung. Denn immerhin lag die unerwartetste Veränderung seines Erwachsenenlebens nun schon drei Monate hinter ihm. Er war jetzt nicht mehr Journalist. Er war, zu seiner eigenen Überraschung, auf einmal Lehrer. Für Deutsch und Geschichte. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht. Er selbst am wenigsten. Die Tage bei seiner Psychotherapeutin hatten diese Veränderung bewirkt. Daran gab es für ihn keinen Zweifel.

Die Vorgeschichte -- musste er die Vorgeschichte auch erzählen?

Die Vorgeschichte würde er sehr kurz abhaken. Er würde ja ohnehin darauf zurückkommen müssen, wenn diese eigenartigen Ereignisse in der Abfolge der Ereignisse an die Reihe kam. Für den Anfang würde genügen: Er hatte einen Aufstieg erlebt. Noch einmal einen. Eine große, eine wirklich bedeutende Zeitung. Ein wichtiges Ressort. Das Politik-Ressort und dazu den Posten des stellvertretenden Chefredakteurs. Mit Aussicht, in zwei, drei Jahren Cheferedakteur zu werden. Und dann hatte er sich von Anfang an überfordert gefühlt. In einer Weise, wie er es nicht für möglich gehalten hatte. Er schlief schlecht, er träumte zum ersten Mal in seinem Leben Albträume, die sich zu Serien verketteten, und er schrieb schlecht. Seine Artikel waren katastrophal schlecht und seine Kommentare ungenießbar. Er war der erste, der das wußte. Endlich, nach sechs quälend langen Wochen, war er zum Arzt gegangen. Burn out würde man heute nicht mehr so gerne sagen, meine dieser Arzt. Die Grenze zur schlichten Depression, die aus der Überarbeitung, vom Stress kam, sei ohnehin kaum auszumachen. Er könne sich die Bezeichnung selbst aussuchen. Feststehe aber, dass er sehr aufpassen müsse. Es gehe ihm nicht gut. Mehr noch: Er stehe kurz davor, in eine wirkliche Depression abzustürzen.

Und er? Was hatte er getan? Er hatte sich eine Flasche Whiskey gekauft und war, mit der Flasche im Koffer, in die Berge gefahren. Er hatte den letzten Lift nach oben genommen. Er hatte sich unterhalb des Gipfels zwischen die Bäume gesetzt. Dann hatte er angefangen zu trinken. Er war gut angezogen. Es war Sommer. Er wusste, dass er nicht erfrieren würde in dieser Nacht. Er wusste allerdings auch, dass er, wenn es Winter war, zurückkommen konnte. Und dann war das, eine solche Nacht, das Ende. Er hatte ein nicht näher zu beschreibendes Prickeln gespürt bei diesem Gedanken.

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