Montag, 23. August 2010

Begriff 'Erzählzeit' -- wirklich so?


Ok, die Literaturwissenschaft hat natürlich viele Freiheiten bei der Bezeichnung ihrer Dinge. Aber diese Fassung läuft der schlichten Wortbedeutung doch allzu arg quer:

"Erzählzeit bezeichnet in der Regel die Zeitspanne, die ein Leser für die Lektüre eines Textes, zum Sehen eines Films, Hören eines Hörspiels (oder vergleichbaren Vorgängen) braucht."

Für das sollte man halt schlicht den Begriff '(effektiv) Rezeptionszeit' verwenden. Bei teachsam beispielsweise wird wenigstens noch die Zeit, die man zum Erzählen benötigt mit aufgeführt.

"Mit dem Begriff der Erzählzeit (= Diskurszeit, discourse-time, temps de lecture) bezeichnet man jenen Zeitraum, den man benötigt, um eine Geschichte zu erzählen bzw. zu lesen."

Aber auch das ist unbefriedigend. Es setzt voraus, dass der Erzähler irgendwo steht und erzählt. Das ist aber oft nicht einmal im Rahmenm einer Erzählerfiktion korrekt.

Sinnvoll wäre es, die Erzählzeit einfach als den Zeitraum zu nehmen, in dem sich der Erzähler 'bewegt' hat, als er das Dargestellte erzählt oder niedergeschrieben hat. Bei expliziter Darstellung (die natürlich in der Regel nur ungefähr erschlossen werden kann): Er hat am ... begonnen, das aufzuschreiben / zu erzählen und am ... damit aufgehört. In den Schritten 1 ... n.(Das Decamerone ist ein schönes Beispiel. Nabokos Lolita wahrscheinlich ein anderes.) Wie lange ich oder jemand anders für's Lesen des Texts oder das Anhören eines Hörbuchs brauche / braucht, ist eine ganz andere Sache. Wobei es gut wäre, wenn da Forschungen mit aufgeführt würden, die das tatsächliche Lesen / Anhören mit der Realität in Einklang bringen. Die Menschen lesen ja höchst unterschiedlich schnell und in verschiedenen Portionierungen. Gibt es entsprechende Forschungen? Das wäre die Frage.

Mal sehen, was die Fachleute dazu sagen. Die alte Sache: Dass sich die Literaturwissenschaft ungern mit der schnöden Realität und ihren schlichten Fragen gemein macht: Wie lange braucht jemand, um Effi Briest zu lesen? Das ist natürlich für die eigentliche Literaturtheorie nicht besonders relevant. Für eine realistische Sicht der Frage, wie viel jemand wirklich in seinem Leben lesen kann und ob viele Literaturanalysen nicht schlichtweg dadurch als Nebelkerzen nachgewiesen werden könnten, weil kein Mensch so viel wie in der Literaturliste angegeben in 3 Jahren lesen kann, das ist eine andere.

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