Das ist ja durchaus lesenswert! Aus dem CICERO.
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Ex-Chef des Bundesnachrichtendienstes
„Vorfälle wie die Messerattacke im ICE sind nur die Spitze des Eisbergs“
Der frühere BND-Chef Gerhard Schindler kritisiert das mangelnde Verständnis für Sicherheitsfragen in Deutschland. Er fordert eine Neujustierung der gesamten Inlands- und Auslandsaufklärung gerade beim Thema Terrorismus. Und spricht über die Gefahren unkontrollierter Migration.
13. November 2021
Gerhard Schindler war von Dezember 2011 bis Juni 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND). Schindler ist Unternehmensberater und Autor des Buches „Wer hat Angst vorm BND?“, das 2020 im Econ-Verlag erschienen ist.
Herr Schindler, im zurückliegenden Bundestagswahlkampf waren die Themen Innere und Äußere Sicherheit praktisch kein Thema. Dabei erleben wir jedoch von Tag zu Tag neue Bedrohungen. Sind die Deutschen naiv – oder fürchtet man unangenehme Wahrheiten?
Ich befasse mich schon seit längerem mit der Frage, welchen Stellenwert Sicherheit in unserer Gesellschaft hat – leider mit dem Befund, dass der Stellenwert unterentwickelt ist. Es gibt dafür eine Reihe von Erklärungen, von denen ich zwei hier nennen möchte. Wir haben erstens nicht mehr den Typus Sicherheitspolitiker, den wir früher hatten. Der letzte dieser Art war der damalige Innenminister Otto Schily, der Sicherheit und seine Politik für Sicherheit quasi verkörpert hat. Davor gab es eine Reihe von anderen herausragenden Sicherheitspolitkern in allen Parteien, aber nach Schily hörte es aus meiner Sicht auf. Zweitens: Wenn wir uns einmal mit den USA vergleichen, stellen wir fest, dass wir nur eine geringe Anzahl von sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen haben, die sich mit dem Thema Sicherheit befassen. Bei uns gibt es zwar die Stiftung Sicherheit und Politik und noch das eine oder andere Institut, aber nicht in dem qualitativen und quantitativen Umfang wie in den USA. Dort beschäftigen sich proportional mehr NGOs mit den Themen Sicherheitspolitik, Bedrohungslagen und wie man diesen begegnen kann. Und dort gibt es auch einen intensiven Informationsaustausch zwischen der aktiven Politik und der Wissenschaft zu diesem Thema. Das fehlt bei uns in Deutschland und ich glaube, dass Sicherheit auf dem Weg ist, ein „Igitt“-Thema zu werden.
Warum eigentlich „Igitt“?
Meist nur dann, wenn es wieder einen Vorfall gibt, poppt das Thema Sicherheit auf, aber mit einer negativen Konnotation, nach dem Motto: Wie konnte das passieren? Wer hat die Verantwortung? Warum haben die Sicherheitsbehörden versagt? Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Es gibt kaum Politiker mehr, die sich aktiv und öffentlich für Sicherheit einbringen wollen, weil das Thema negativ besetzt ist. Und das Thema bleibt negativ besetzt, weil es keine herausragenden Fürsprecher mehr dafür gibt. Damit schließt sich immer wieder der Kreis im Negativen; Sicherheit wird ein Thema, das stört, das unangenehm ist, das man wegdrängt und mit dem man eigentlich gar nichts zu tun haben will. Insofern haben wir da eine Entwicklung, die alles andere als gut ist. Dabei bin ich der Überzeugung, dass das nichts mit unserer Vergangenheit zu tun hat. Die gängige These, das hätte etwas mit den unsäglichen Ereignissen im Dritten Reich oder in der DDR zu tun, teile ich nicht; Geschichtsbewusstsein ist sicher nicht der ausschlaggebende Grund für diese Entwicklung.