Samstag, 20. Januar 2007

Der Stab

Er war in einer Krise? Ja, natürlich war er in einer Krise. Er wachte nachts auf und sagte sich, daß er gescheitert war. Da und da und dort auch. Er war jetzt 56 Jahre alt. Bald war er 57. Und er war gescheitert. Auf eine nicht uninteressante Weise. Das immerhin. Wenn er ein Bild für dieses Scheitern suchte, dann sah er sich als Stabhochspringer, in extremer Zeitlupe. Er sah den sicheren Anlauf. Das geschickte Einstechen des Stabs. Das Sich-Biegen des Geräts unter der Last des Geräts. Das Emporsteigen. Dann der Bruch des Stabs. Und das Fallen.

Er fiel noch immer.

Er wachte nachts auf und fragte sich: Was hast du da getan? Wann hast du diese Kerbe in den Stab gefeilt? Mit viel Erfahrung und Instinkt. So daß der Stab, gerade als du die fünf Meter erreicht hattest, zerbrechen mußte. Warum nur hast du das getan?

Er wußte, was er falsch machte, als er begann, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Richtig gewesen wäre es, einfache, kleine Geschichten aneinanderzureihen. So wie diese Geschichten in der Erinnerung bereitlagen. Auch wenn andere Titel gefunden werden könnten, der Haupttitel, schlicht, für diese diese Geschichten wär dann immer: Mein Leben. Und fertig.


Warum schrieb er nicht so? Warum setzte er nicht schlichte Geschichten aneinander?

Die Antwort war einfach und zwingend: Weil er es nicht konnte. Oder, etwas komplizierter formuliert: Weil er, hätte er dies versucht, über kurz den Gedankendruck in seinem Kopf in einem Maß erhöht hätte, daß er bald nicht mehr hätte weiterschreiben können.

Er war kein theoretischer Mensch. Wahrscheinlich war er nicht einmal ein Intellektueller. Es war nur so, daß an seinen einfachen Gedanken andere Gedanken und an diesen wieder andere Gedanken hingen. Sein Denken war wie ein Wurzelgeflecht, das von starken, großen Haltewurzeln zu immer feineren Wurzeln hinabführte. Wenn er schrieb und schreibend Geschichten erzählte, halb und manchmal ganz einfache Geschichten, dann konnte er diese Wurzeln unsichtbar machen. Man sah die Fläche und darauf den Baum des Erzählten, sonst nichts. Aber nun, da er von sich, wirklich von sich sprach, konnte er die Wurzeln, die aus gegenwärtigem Denken bestanden, nicht ausblenden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen