Dienstag, 29. August 2006

Von Halle (DDR) nach Bagdad (Irak)

Ich war seinerzeit, vor 1989, zweimal für längere Zeit in der DDR. Also nicht nur auf den Transitwegen und auch nicht in Ost-Berlin, sondern in der Provinz. 1986 in Halle bin ich durch die Stadt gegangen. Über allem lag der schwefelige Geruch aus den Braunkohle-Öfen. Damals ist mir die Erkenntnis -- nicht gekommen, sondern allmählich gedämmert, daß die Medien einen Doppelfilter haben aus (a) "Interessiert und nicht wirklich" und (b) "Was nicht sein darf, das kann nicht sein". Also -- da lag vor aller Augen eine ruinenhaft heruntergekommene Innenstadt Halle und am Horizonte erhoben sich die Plattenbauten. Hätte irgendjemand in einem Bonner Ministerium solche Zustände einmal in Augenschein genommen und hochgerechnet, er hätte qua Dienstverpflichtung dem damaligen Bundeskanzler Kohl einen Zettel auf den Schreibtisch lancieren müssen, und auf diesem Zettel hätte stehen müssen: "Keine blühenden Landschaften so schnell möglich!"

Im Fall des Irak ist zu sagen: Immerhin gab es da Warnungen. Richtig übersetzt haben die gelautet: "Wenn ihr den Deckel Saddam und damit seine Unterdrückungsventile vom Topf Irak nehmt, dann kommt es zu einem permanenten Überkochen des Topfes, und so leicht werdet ihr diesen Topf nicht mehr geschlossen bekommen." Aber keiner der Verantwortlichen hat das wohl so recht begreifen können. Die feste Überzeugung: "Wir bringen dem irakischen Volk Freiheit. Fegen den Diktator hinweg. Selbstverständlich -- man wird jubeln und uns allenthalben danken! Und dann ordnen wir die Dinge neu. Demokratisch. Für bestehende Widersprüche und Interessengegensätze finden wir faire Lösungen." (Nicht alles auf Bush schieben! So denkt das Nicht-Experten-Amerika, also das Volk, die Wähler. So denkt überhaupt der Hauptteil der westlichen Welt. Der Anteil jener in Deutschland, der gerne die Unterdrückung als ortsübliche Folklore bewahren möchte, einmal mitgerechnet.)

Jetzt wissen wir es also besser. Im SPIEGEL ein Artikel: "Das Netz der Spinne"*. "Tausende sind in den vergangenen Wochen ums Leben gekommen, weit mehr als bei der Libanon-Invasion Israels."

Der Vorschlag, ganz ruhig. Nennen wir die Dinge beim Namen. Bringen wir sie auf den Punkt. Über Afghanistan und den Irak hinaus verallgemeinert. Nehmen wir die Medien-Filter (a) und (b) weg. Dann lautet die schlichte Wahrheit: Es gibt Staaten, deren mehr oder weniger nicht-homogene Völker nicht nur für den Demokratie-Gedanken der westlichen Welt nicht reif sind; die Menschen dort haben darüber hinaus in ihrer Mehrzahl auch ein Weltbild, das nur auf unmittelbare Gewalt reagiert.

Was folgt daraus? So verrückt es klingt: Saddam war das kleinere Übel. Er war ein wahrer Sohn seiner Völker. (Nein, das ist dann nicht die Annahme von ortsüblicher politischer Folklore!) Die Annahme, die aktuellen Opfer, die jetzt Unterdrückten, die Kurden beispielsweise, seien moralisch besser und demokratisch weiter ist eine lächerlich falsche Annahme.

Natürlich liegt dann der Relativismus extrem nahe. Die Sache ist auch perfekt unvollständig. Wirtschaftliche Interessen und Verflechtungen müßten jetzt bedacht werden. Aber dann wird alles sehr, sehr komplex. Was nicht heißt, daß es unmöglich ist, alles in ein System zu bringen. In dem prinzipiell unsystematisierbare Teile als solche benannt und anerkannt sind. Es bräuchte nur Zeit und Energie.

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DER SPIEGEL 35 / 28.08.2006, S. 108ff.

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