Sonntag, 3. Juni 2018

Argumentationsanalyse 2: Zwei Systeme

Die zwei Systeme sind: geschlossene und offene. Das möchte ich erläutern.

Ich habe relativ lange gebraucht, um einen ziemlich schlichten Sachverhalt formulieren zu können: Es gibt, wenn es um das Argumentieren geht, zwei grundsätzlich unterschiedliche Systeme des Argumentierens. Unter einem geschlossenen System verstehe ich das Argumentieren, bei dem die Grundlagen im Laufe der Zeit vollständig fix etabliert worden sind. Vor allem Begriffe, Kategorien, Terme sind so bestimmt, dass – und nun kommt ein so wichtiger wie schwieriger Begriff – die Dazugehörigen, die Fachleute also, sich jederzeit einfach und klar verständigen können.

Die meisten Menschen werden beim Ausdruck geschlossenes System vielleicht zuerst an die Mathematik denken. Nicht nur, weil es eine gesellschaftlich weitverbreitete Abneigung gegen formal logische und mathematische Systeme gibt, ist etwas anderes viel besser und anschaulicher: das Schachspiel. Die Regeln sind vollständig klar formuliert, und es gibt auch den Versuch, gewissen menschlichen Unzulänglichkeiten Rechnung zu tragen. Wer eine Figur auf dem Spielfeld nur etwas zurechtrücken möchte, ohne zu ziehen, der hat zu sagen: 'J’adoube.' Und so weiter. Die Figuren allerdings müssen klar erkennbar sein, und die Felder dürfen nicht vage voneinander abgegrenzt sein, sodass unklar bleibt, ob der weiße Springer nun auf c3 oder auf d3 steht; man muss jederzeit wissen, wo eine Figur genau positioniert ist.

Und nun, Achtung: Geschlossene Argumentationssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass unter Eingeweihten immer klar ist, wer recht hat und wer nicht. Heißt: Mal geschätzt 99,98% der unter professionellen Bedingungen gespielten Schachpartien – zeichnen sich dadurch aus, dass es keinerlei Zweifel gibt, wer da diese Partie gewonnen hat bwz. dass die Partie mit Remis zu Ende gegangen ist. (Und für die wirklichen Zweifelsfälle gibt es eben Schiedsrichter und Institutionen, Gerichte, die neutral sind und entscheiden.) Und die Wettkampfregeln legen, wenn es zu einer Reihe von Spielen gekommen ist, auch fest, wer als Großmeister zu gelten hat, und wir eben nur ein guter Schachspieler ist. Trivial natürlich: Um überhaupt was zu verstehen, muss man, und sei es auch noch so schlecht, Schach spielen können!

Offene Systeme des Argumentierens sind vollständig anders aufgebaut: Sie ähneln, das ist hier mein liebstes Beispiel, einem Rohrschach-Test. Das Faktische* auf dem Papier, der Klecks, den es zu deuten gilt, ist für alle Interpretationen offen. Es wird allerdings sich rasch eine Gruppe von Meinungsführern herausbilden, die sagt, dass dieser Klecks X natürlich wie ein Krokodil aussieht, während die andere Gruppe sagt: Nein, das sei selbstverständlich ein Baumstamm. Wie lässt sich in einem solchen Fall sagen, wer recht hat? 

Drei Dinge sind wichtig: Erstens, die Gruppen finden sich nicht nur über Wahrnehmung und Interpretation zusammen, sondern über vorgängige komplexe Weltbilder und Freundschaftsstrukturen. (Man widerspricht anderen ungerne, wenn man damit Gefahr läuft, aus der vertrauten Gruppe ausgestoßen zu werden. Und im politischen Argumentationszusammenhang können Sahra Wagenknecht oder Horst Seehofer im Zweifelsfall verkünden, was sie wollen, Anhänger von CSU oder den Linken werden so gut wie nie eine These oder ein Argument des politischen Gegners hochhalten oder auch nur akzeptieren.) Zweitens, es gibt hier keine wie immer geartete 'objektive Wahrheit'; die verschiedenen 'Wahrheiten' bestehen als Konsensgebilde der jeweiligen Gruppen.

Unsere alltäglichen  politische, ideologischen und privaten Argumentationen verlaufen immer entsprechend den Regeln offener Argumentationssysteme. Nur die einfach gestrickten Gemüter glauben, und das gar nicht so selten, dass das, was sie und ihre Gesinnungsgenossen für richtig halten, schlichtweg die Wahrheit ist, objektiv und unangreifbar richtig.

Gelten muss unter den Vorzeichen der Rationalität: Offene Argumentationssysteme sind also extrem schwierig zu händeln; allerdings: undurchschaubar sind sie nicht.

Ach ja, und auf das noch: Wie immer gibt es zwischen den zwei Extremen vage, verschwommene Übergänge. Heißt: Manche sehr wichtigen Systeme, wie etwa der gesamte Bereich der Rechtsprechung, befinden sich zwischen den Extremen Offen und Geschlossen. Die Einzelheiten lassen sich nur an Fallbeispielen aufzeigen.

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* Aus den Überlegungen zum Thema Faktum habe ich einen gesonderten Eintrag gemacht.

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