Freitag, 5. Oktober 2018

Die Seelen und das Meer

Zitate aus Andreas von Jaretzki, Die Nacht der Delphine, 1971:

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  »Wenn beim Ende einer Beziehung der eine Teile fast alles, und der andere fast nichts verliert, dann war diese Beziehung von Beginn an auf einem gehälfteten Fundament aus Sand und Beton gebaut. Sie hatte von Beginn an keine Chance zu gelingen.«

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  »Damals, als ich über Monate hin allein in Colmar lebte und jeden Tag in die Kirche ging, um mir den Auferstehungsaltar anzusehen, da habe ich meine große Trostlosigkeit überwunden. Ich stand da, mitten in der Kirche, und ich schaute. Während meine Gedanken ganz auf dieses Bild gerichtet waren, verstand ich auf einmal. Ja, auf einmal sah ich den Grund meiner Verzweiflung und mit meinem Schauen löste sich die Verzweiflung auf. Mir war mit einem Mal klargeworden, daß Personen, die doch auf den ersten Blick feste Gestalten haben, so daß sie ständig klar umgrenzt erscheinen, in ihren Seelen dem Meer ähnelten. Wie dieses bestehen auch die Menschen, denen man begegnet, aus der Oberfläche und der Tiefe. Wellen rollen heran. Draußen, dem Auge des Betrachters verborgen, liegen Sandbänke, Gräben und Gebirge. Auch in den Seelen schwimmen Tiere, und manche Tierarten ernähren sich von anderen. Seit dem Tag, an dem ich das erkannte, treffe ich Bekannte und Freunde, und es ist mir, als begrüßte ich sie mit demselben Recht als einzelne, mit dem ich ans Meer trete und sage: Grüß dich, Meer!
  Ich lächle, wenn ich einen Bekannten treffe. Manche haben mir schon gesagt, dass mein Lächeln sie überrascht. Sie fragen, warum ich denn so versonnen lächle. Und ich antworte: ›Ach, es ist nur – ich musste gerade ans Meer denken.‹
  Dann drehe ich mich um, gehe davon und lasse sie mit ihrer Verwunderung allein.«

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