Samstag, 3. Juli 2010

Plädoyer für eine Veränderung des Lehrplans an Gymnasien

Ein hoch gebildeter Mensch, dabei vollkommen unbekannt, wenn man die Maßstäbe der Mediengesellschaft anlegt, ein -- sagen wir: ehemaliger Lehrer für Latein und Griechisch, Oberstudiendirektor an einem Gymnasium vor Jahren, er setzt sich hin und beginnt, handschriftlich, seine Autobiographie zu schreiben. Er zweifelt. Warum tue ich das. Dann schreibt und schreibt er, und am Ende hat er 1.200 Seiten geschrieben. Seltsamerweise genau 1.200 Seiten.
Nach vielen Jahren liest ein ehemaliger Schüler dieses Mannes diese Zeilen. Dieser Mann, dieser Lehrer, er war doch einst ein Mächtiger, ein Notenverteiler. Nicht böse, nicht unsympathisch. Eher still, beharrlich. Ein Lehrer halt. Ein Vertreter dieses aus dem Ministerium hervorquellenden Systems Schule halt. Jetzt ist da. Noch da. Und da ist noch diese seine Autobiographie. Wohl schon ein paar Jahre alt. Jetzt sitzt dieser ehemalige Oberstudiendirektor, über 90 Jahre alt, in einem Altersheim und erkennt die Menschen nicht mehr.
Was ist das Leben? Auf welche Ziele läuft es zu?
Der Schüler dieses Lehrers denkt sich, dass seine Lehrer, diese Vertreter dieses aus den Ministerien hervorquellenden Systems Schule, ihm alles Mögliche abverlangt haben. Dinge, die der Lehrplan des Ministeriums befahl den Schülern abzuverlangen. Und nie hätte dieser Lehrer verstanden -- hätten die Lehrer allesamt verstanden, wenn er, der Schüler, ihnen, den Lehrern, diese Aufgabe vorgelegt hätte:

Gehen Sie einmal von unserem heutigen, dem wissenschaftlichen Weltbild aus. Also Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren. Die Herausbildung eines Planeten, vor ungefähr 4 Milliarden Jahren, später als Erde bezeichnet. Wunderliche, doch irgendwie zufällig-unvermeidlicher Fortgang der Dinge, genannt Evolution. Einzeller, Mehrzeller, Meeresbewohner, Amphibien, an Land lebende Tiere. Fressen und gefressen werden. Geboren werden und absterben und Weiterentwicklung, genannt Evolution. Affen, Hominiden, Menschen. Wandern, sich ausbreiten, geboren werden und sterben. Irgendwann die Neuzeit, die Moderne, die Verehrung des griechischen und römischen Altertums. Andeutungen von Seltsamkeiten. Slavenhaltergesellschaften und Knabenliebe, Gladiatorenkämpfe und sonstige Schlachtfeste vor Publikum. Das alles kennen, aber ausblenden. Denn da waren ja doch: die Philosophie, das römische Recht und die feinen, großen Schlachten. Wunderwerke der Kriegskunst. Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam. Die Kinder mit alten, sehr toten Sprachen niederkämpfen. Und irgendwann dann -- die Lehrer im Altersheim, dement. Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Finis nunc est. Die rechten Bilder sind schon zur Hand. Die Fackel weitergeben. Es gibt ja neue Lehrer. Diese von tausend halb ausgeblendeten Unmenschlichkeiten wie von Schimmel zersetzte Bildung weitergeben. Dann -- nun aufgepasst! -- geht alles weiter, immer weiter. Irgendwann aber, so sagt der Lehrplan, geht nicht nur dein Leben, Lehrer, zu Ende. Nein, es geht auch das Leben, alles Leben zu Ende. In, nun sagen wir: in 5 Milliarden -- ach was, schon in 2,7 Milliarden Jahren ist es ganz still in diesem Teil des Kosmos. Vorher aber schreibst du, Lehrer, eine 1.200 Seiten starke Autobiographie, die nicht einmal deine Kinder lesen wollen. Die sie nicht verstehen können. Eine Autobiographie, die von lauter kleinen Vergangenheiten redet. Von Vergangenheiten, die mit den Sorgen deiner Kinder und ihrer Gegenwart nichts zu tun haben. Und irgendwann wird es, wie gesagt, ganz still sein in diesem Teil des Kosmos. Wenn die Zeit begonnen hat, ist sie, wie viele Milliarden Jahre auch noch vor uns liegen, auch schon zu Ende. Nun also, ihr Lehrer, gebildet in Latein und Griechisch, Deutsch und Geschichte, Mathematik und, ja, auch: Physik, ihr Lehrer halt, zu welchem Ergebnis kommt ihr nun? Unter was könnt ihr, Lehrer, die ihr mit der Macht eures kleinen Spezialistentums, mit dem ihr des Vormittags die Kinder quält, weil sie alles lernen sollen, während ihr euch spezialisiert habt und die Aufgaben eurer Kollegen vom nächsten Tisch im Lehrerzimmer nicht mehr lösen könntet -- was könnt ihr antworten? Und welchen Satz könnt ihr euer letztes und so unendlich trostloses Quod erat demonstrandum nun setzen?

Wie, ihr versteht die Aufgabe nicht? Seid ihr denn so wenig denkfähig und begabt, dass man euch auf die Sonderschule des Lebens schicken muss? Seit wann schützt einen die Feststellung, dass man eine Frage nicht versteht, vor dem Ansinnen, diese Aufgabe dennoch lösen zu müssen?

So möchte der ehemalige Schüler dieses Lehrers fragen. Aber, weil er ein Mensch ist und weil ihm das Menschliche auf eine ihm selbst unheimliche Weise nicht fremd ist, steht er von seinem Schreibtisch auf, und es ist ihm, als müsse er vor diesem Lehrer, dement nun und im Altersheim -- als müsse er vor diesem Lehrer und und seiner 1.200seitigen Lebensgeschichte, salutieren. Und also steht er auf und salutiert. Vor dem Lehrer, der Lebensgeschichte dieses Lehrers. Und auch wenn er, der ehemalige, jetzt 60jährige Schüler, es weiß -- er salutiert vor der Sinnlosigkeit.

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