Samstag, 14. September 2019

Eva Geulen über H. P. Lovecraft

Notizbuch

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H. P. Lovecraft. Das große formlose Grauen. Ob "Stranger Things", "Dark" oder "Twin Peaks": Alle jüngeren Horrorerzählungen gehen zurück auf H. P. Lovecraft. Er spaltet die Welt in Fans und Ignoranten. Von Eva Geulen -- 14. September 2019 Erschienen im Merkur 28 Kommentare

H. P. Lovecraft: Die Titelillustrationen von John Holmes zur Lovecraft-Buchserie, die in den Siebzigerjahren im amerikanischen Ballantine-Verlag erschienen ist

Aus einer fiktionalen Geschichte kann ein quasi bewohnbares Universum eigenen Rechts werden, wenn die eine über sich hinaus in andere Geschichten drängt, insbesondere solche aus anderen Zeiten und mit anderen Wirklichkeiten. Aus Geschichten werden dann Schichten, die alle irgendwie zusammenhängen, sich aber in keinem einzelnen Erzählstrang erschöpfen. Fiktion ist paradoxerweise dann besonders fesselnd und glaubhaft, wenn eine Welt unter dem Druck einer anderen, die genauso fiktional ist, ihre festen Konturen verliert und durchlässig wird.

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Kafkas Welt kann man sowohl unheimlich wie selbstreflexiv nennen, aber durchlässig ist sie nicht einmal im Jäger Gracchus, der als Untoter durch die Zeiten fährt. Anders dagegen Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838), dessen Erzähler sich auf den Spuren eines (fiktiven) Reiseberichts an den Rand der Welt begibt und dort in eine andere gerät. Das Motiv vom Buch im Buch ist vielleicht der bekannteste Kniff, durchlässige Welten zu erschaffen. Es findet sich in der Kinder und Jugendliteratur (Michael Endes Unendliche Geschichte von 1979), aber auch im historischen Roman, etwa Umberto Ecos Krimi um den verschollenen Komödienteil der Poetik des Aristoteles in Der Name der Rose (1980). Dan Browns Da Vinci Code (2003) hat sich seiner erfolgreich bedient, und bei Stephen Greenblatt organisiert das verbotene Buch seine preisgekrönte Geschichte der Lukrez-Rezeption in The Swerve (2011).

Gewissermaßen zu Hause ist dieser Erzähltypus in den Genres der Fantastik, des Horrors und der Science-Fiction. Dabei ist der manifeste Exotismus dieser Welten, Geister aus dem Jenseits oder monströse Wesen aus dem All, eher Beigabe. Der Reiz besteht vor allem in der erzählend hergestellten Durchlässigkeit und der entsprechenden Erfahrung von Grenzverschiebungen mit Lizenz zum Weiterspinnen. An den düsteren Serienwelten wird ja in anderen Gattungen und Medien, in Internetforen, Fanzines und Computerspielwelten, eifrig fortgeschrieben. Die Frage nach dem Unterschied zwischen Fakt und Fiktion stellt sich bald nicht mehr. (zeit.de)

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