Freitag, 18. Oktober 2013

Wenn Europa seine Grenzen öffnen würde

Da habe ich noch vor Tagen geschrieben: "Klar ist auch: Europa kann nicht alle Menschen aufnehmen, die in ihren Ländern verfolgt sind oder keine wirtschaftliche Zukunft in ihrem Heimatland sehen." Dann wird heute in der SZ durchdekliniert, dass es gar nicht unmöglich sei, dass Europa alle Flüchtlinge aufnimmt. Alles leider redet die Expertin Hess da extrem vage daher, ohne Zahlen bzw. ohne Zahlen, die man halbwegs nachvollziehen könnte. Und solche Größen wie die Akzeptanz von Fremden in der Bevölkerung. Akzeptanz -- eine einfache Größe. Denn man kann die Menschen ja nicht einfach ändern. Sie haben, in unterschiedlichen Formen und Reaktionsweisen, etwas gegen Fremde. Wenn in einem U-Bahn-Wagen laut gefühlt 17 verschiedene Sprachen und drei nordostdeutsche Dialekte gesprochen werden, dann muss man den Alt-Münchenern, die im Abteil sind, mal ins Gesicht sehen!


Etwas ausführlichere Textprobe:



Feuilleton
'Wir verschwenden Potenzial'

Die Migrationsbestimmungen für Menschen bleiben restriktiv. Was aber wäre, wenn Europa seine Grenzen öffnen würde? Ein Gespräch mit der Kulturanthropologin Sabine Hess


Interview: Kathleen Hildebrand

Es erscheint paradox, dass trotz der umfassenden Globalisierung von Geld- und Warenströmen die Migration von Menschen nach wie vor streng reglementiert ist. Die Migrationsforscherin Sabine Hess sieht den Grund dafür in einer öffentlichen Debatte, die der Lebensrealität hinterherhinkt. Sie ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen und leitet dort das Labor für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

SZ: Ein unwahrscheinliches Szenario: Was würde passieren, wenn Europa morgen alle seine Grenzen öffnete und jeden aufnähme, der kommen will?

Sabine Hess: Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, die Politik tut nur so, als sei das undenkbar. Etliche führende Thinktanks spielen das mittlerweile durch. Neoliberale Wirtschaftsdenker sehen darin zum Beispiel gar kein Problem. Sie finden vielmehr, dass Grenzkontrollen unnötige staatliche Eingriffe sind. Es gibt dazu auch schon viele Papiere wie die Studie 'People Flow', die der überparteiliche britische Thinktank Demos erstellt hat. Auch das Bundesamt für Migration spielt Szenarien für Grenzöffnungen durch. Uns wird nur vorgegaukelt, das sei eine absurde, linksutopistische Forderung. Aber so absurd ist sie gar nicht. Zum anderen ist es ja auch so, dass gar nicht alle hierherkommen wollen. Es ist eine totale eurozentristische Überschätzung, dass alle Migrationsbewegungen der Welt nach Europa führen. Wenn man den globalen Maßstab anschaut, gibt es andere Migrationssysteme, die in die arabischen Staaten führen, in die Ölstaaten und in die boomenden Industrien Lateinamerikas. Nur ein verschwindend geringer Anteil kommt nach Europa.

Wenn die Migration legal besser möglich wäre - würden die Flüchtlingsströme dann nicht wachsen?

Auch wenn es legal würde, gäbe es immer noch die Frage, wer es sich leisten kann, nach Europa zu kommen. Das sind sowieso immer nur die Menschen, die über finanzielle Ressourcen und Netzwerke verfügen, die das Know-how haben, ein solches Migrationsprojekt zu realisieren.

Die Bevölkerungsgruppen, die da übers Mittelmeer kommen sind also gar nicht die Ärmsten der Armen?

Nein, überhaupt nicht, das zeigen alle Studien. Die Ärmsten der Armen können nur regional migrieren. Hierher kommen nur Leute, die bereits Kontakt nach Europa haben, eine Tante oder einen Bruder. Leute aus der Mittelschicht. Wir tun so, als würden wir in einer nicht vernetzten Welt leben, als wären das irgendwelche Fremden, die sich aus irrationalen Gründen oder aus Armut heraus aufmachen und uns überrennen wollen. Aber wir leben in einer hochvernetzten Welt mit internationalen Diasporen, die Produkte der Kolonialzeiten sind. Frankreich, Spanien, Großbritannien und auch Deutschland haben koloniale Geschichten, die bis in unsere Tage reichen. (SZ von heute, S. 12)