Das Folgende wollte ich schon seit längerer Zeit mal anmerken. Es gibt Feststellungen, die so wie diese klingen, recht häufig.
"Aktuellere Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt sogar etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt."
Diese Feststellungen kommen immer mit dem Anspruch "Was sind wir doch gescheit und werden auf beängstigende Weise ja immer gescheiter! Wohin soll das nur führen?!" Vornehmer: "Wie müssen wir denn ein zukunftstaugliches Wissensmanagement organsieren?" Abgeleitet und berechnet wird der Wissenszuwachs nicht selten nach der Anzahl der Seiten wissenschaftlicher Texte, die in einem bestimmten Zeitraum veröffentlicht worden sind. Was -- wie gleich zu zeigen sein wird -- komplett unsinnig ist.
Zur obigen Feststellung: Mal abgesehen davon, daß in dem Teil wobei sich diese Rate noch beschleunigt irgendwas fehlt,* steht hinter diesen sich weise gebenden Denkschablonen ein so extrem einfacher Denkfehler, daß man manchmal aufschreien möchte.
Aber: Weil der Denkfehler einfach ist, läßt er sich auch mit einfachen Mitteln darstellen.
Die Frage ist: Welche Arten von Wissen gibt, die sich da im Lauf einer bestimmten Zeitspanne verdoppeln?
Nehmen wir mal an, es ist eine einfache und klare Form von Wissen, die Anzahl der Fenster in Häusern zu kennen. Sie gehen um das erste Haus herum und zählen die Fenster. Das Ergebnis notieren Sie in einer Liste. (Von der ja auch nicht uninteressanten Frage, daß Sie manchmal nicht sicher sind, ob das da oben ein Fenster oder eine Luke ist, wollen wir mal absehen.) Wenn Sie jetzt das nächste Haus zählen, hat sich Ihr Wissen schon verdoppelt. Um dieses Wissen wieder zu verdoppeln -- müssen Sie wieviele Häuser "fenstermäßig" auszählen? Vier. So entsteht die Zahlenreihe, die wir vom chinesischen Kaiser -- oder war es doch die indische Königin Hawsin -- und den Reiskörnern auf dem Schachbrett kennen. 1 - 2 - 4 - 8 - 16 - 32 ...
Daraus lassen sich drei Schlußfolgerungen ziehen: (1) Es ist, zumindest bei dieser Art von Wissen, nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr möglich, Wissen zu verdoppeln. Weil wir nicht genügend Zeit für die doppelte Zahl von Häuserzählungen haben. Oder wir können (2) nicht mehr unser Wissen erhöhen, weil uns irgendwann einfach die Häuser ausgehen. Wenn alle ausgezählt sind. Dann gibt es keine Wissenserhöhung und schon gar keine Wissensverdoppelung mehr. (3) Es gibt, grob gesagt, nützliches, mittelnützliches und vollkommen unnützes Wissen. (Das wird ja inzwischen auch in den Büchern mit dem unnützen Wissen vorgeführt.) Die Frage nach der Nützlichkeit kann nur im Zusammenhang einer hinter der Wissenssammlung stehenden Verallgemeinerung beantwortet werden. Wenn jemand aus einer Marotte heraus die Fenster der Häuser zählt, ist das Ergebnis extrem unnützes Wissen. Wenn eine steuerstatistische Aussage mit Gesetzeskraft die Fensterzählung verlangt, ist das Wissen verwaltungstechnisch sinnvoll und notwendig. Wenn damit eine historische Hypothese untermauert werden soll -- wie immer die aussehen könnte --, ist die Sammlung vielleicht mittelnützlich, immer abhängig vom Sinn und Zweck der Hypothese.
Was steckt hinter all dem für eine Konsequenz?
Wir brauchen, um Wissen und weiteres Wissen zu gewinnen, eine bestimmte Methode, das Wissen zu gewinnen. In unserem Fall war das die schlichte Methode des Zählens von X (der Fenster) und des Ergebnis-Notierens. Bei fortgeschrittenen und komplexen Methoden der Wissensgewinnung kommen methodische Probleme hinzu, die die Wissensgewinnung ebenfalls an Grenzen stoßen lassen.
Zwei Beispiele hier: (1) Nehmen wir mal an, Sie wollen das Wissen über das Wetter der letzten 300.000 Jahre erheben. Wann haben Sie da Ihr Wissen verdoppelt? Wenn Sie nach den letzten 100 Jahren die nächsten 200 haben? Aber es ist klar, daß die vergangenen 100 Jahre recht einfach sind, weil es Aufzeichnungen gibt. Daß es dann irgendwann keine Aufzeichnungen gibt, aber immer noch Hilfsmittel, z. B. die Jahresringe von Bäumen. Irgendwann werden die Ergebnisse mit extrem indirekten Mitteln gewonnen. Lassen sich das Wissen über die ersten 100 Jahre mit dem Wissen über den Zeitraum 100.000 - 100.100 überhaupt noch vergleichen? (2) Es könnte auch sein, Sie möchten Ihr Wissen um das demnächst vorherrschende Wetter zuverlässig von 2 auf 4 Tage steigern. (Ich weiß, das ist nicht ganz korrekt formuliert, denn es geht hier eben nicht um Wissen als ein Ergebnis, das auf einer Methode beruht, sondern um die Methode selbst. Auch darüber läßt sich dann weiter nachdenken.) Bei der Verdoppelung von 2 auf 4 gehen Ihnen beim heutigen Stand der Technik irgendwo unterwegs die Computerkapazitäten aus.
Und: Wir müssen überlegen und am Ende -- wissen, was wir mit unserem Wissen anfangen wollen!
Bevor ich ins wirklich Komplizierte und blogmäßig gesehen Unangemessene komme, halte ich einfach mal fest: Quantifzierende Aussagen im Bereich "Wissen" sind so lange vollkommener Humbug, solange wir nicht eine operationale Methode haben, in der die ganz und gar verschiedenen Arten des Wissen -- die wir vorher erst einmal systematisch erfaßt haben -- mit den Methoden der Wissensgewinnung und der Wissensverwertung in einer sehr komplexen "Theorie der Wissensgenerierung" verbunden sind. Oder um es noch mal einfach zu sagen: Newton und Einstein haben bestimmte Voraussetzungen der Wissengewinnung durch Theorien verändert, ohne selbst viel zum empirischen Wissen auf der Basis ihrer Methode beizutragen. Welches "Quantum" hatten ihre Theorien?
Mal sehen, was bei Wikipedia aus diesen Überlegungen wird.
Bis heute (28.09.2007): Nichts. Wahrscheinlich ist die Sache denn doch zu kompliziert für WP."Aktuellere Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt sogar etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt."
Diese Feststellungen kommen immer mit dem Anspruch "Was sind wir doch gescheit und werden auf beängstigende Weise ja immer gescheiter! Wohin soll das nur führen?!" Vornehmer: "Wie müssen wir denn ein zukunftstaugliches Wissensmanagement organsieren?" Abgeleitet und berechnet wird der Wissenszuwachs nicht selten nach der Anzahl der Seiten wissenschaftlicher Texte, die in einem bestimmten Zeitraum veröffentlicht worden sind. Was -- wie gleich zu zeigen sein wird -- komplett unsinnig ist.
Zur obigen Feststellung: Mal abgesehen davon, daß in dem Teil wobei sich diese Rate noch beschleunigt irgendwas fehlt,* steht hinter diesen sich weise gebenden Denkschablonen ein so extrem einfacher Denkfehler, daß man manchmal aufschreien möchte.
Aber: Weil der Denkfehler einfach ist, läßt er sich auch mit einfachen Mitteln darstellen.
Die Frage ist: Welche Arten von Wissen gibt, die sich da im Lauf einer bestimmten Zeitspanne verdoppeln?
Nehmen wir mal an, es ist eine einfache und klare Form von Wissen, die Anzahl der Fenster in Häusern zu kennen. Sie gehen um das erste Haus herum und zählen die Fenster. Das Ergebnis notieren Sie in einer Liste. (Von der ja auch nicht uninteressanten Frage, daß Sie manchmal nicht sicher sind, ob das da oben ein Fenster oder eine Luke ist, wollen wir mal absehen.) Wenn Sie jetzt das nächste Haus zählen, hat sich Ihr Wissen schon verdoppelt. Um dieses Wissen wieder zu verdoppeln -- müssen Sie wieviele Häuser "fenstermäßig" auszählen? Vier. So entsteht die Zahlenreihe, die wir vom chinesischen Kaiser -- oder war es doch die indische Königin Hawsin -- und den Reiskörnern auf dem Schachbrett kennen. 1 - 2 - 4 - 8 - 16 - 32 ...
Daraus lassen sich drei Schlußfolgerungen ziehen: (1) Es ist, zumindest bei dieser Art von Wissen, nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr möglich, Wissen zu verdoppeln. Weil wir nicht genügend Zeit für die doppelte Zahl von Häuserzählungen haben. Oder wir können (2) nicht mehr unser Wissen erhöhen, weil uns irgendwann einfach die Häuser ausgehen. Wenn alle ausgezählt sind. Dann gibt es keine Wissenserhöhung und schon gar keine Wissensverdoppelung mehr. (3) Es gibt, grob gesagt, nützliches, mittelnützliches und vollkommen unnützes Wissen. (Das wird ja inzwischen auch in den Büchern mit dem unnützen Wissen vorgeführt.) Die Frage nach der Nützlichkeit kann nur im Zusammenhang einer hinter der Wissenssammlung stehenden Verallgemeinerung beantwortet werden. Wenn jemand aus einer Marotte heraus die Fenster der Häuser zählt, ist das Ergebnis extrem unnützes Wissen. Wenn eine steuerstatistische Aussage mit Gesetzeskraft die Fensterzählung verlangt, ist das Wissen verwaltungstechnisch sinnvoll und notwendig. Wenn damit eine historische Hypothese untermauert werden soll -- wie immer die aussehen könnte --, ist die Sammlung vielleicht mittelnützlich, immer abhängig vom Sinn und Zweck der Hypothese.
Was steckt hinter all dem für eine Konsequenz?
Wir brauchen, um Wissen und weiteres Wissen zu gewinnen, eine bestimmte Methode, das Wissen zu gewinnen. In unserem Fall war das die schlichte Methode des Zählens von X (der Fenster) und des Ergebnis-Notierens. Bei fortgeschrittenen und komplexen Methoden der Wissensgewinnung kommen methodische Probleme hinzu, die die Wissensgewinnung ebenfalls an Grenzen stoßen lassen.
Zwei Beispiele hier: (1) Nehmen wir mal an, Sie wollen das Wissen über das Wetter der letzten 300.000 Jahre erheben. Wann haben Sie da Ihr Wissen verdoppelt? Wenn Sie nach den letzten 100 Jahren die nächsten 200 haben? Aber es ist klar, daß die vergangenen 100 Jahre recht einfach sind, weil es Aufzeichnungen gibt. Daß es dann irgendwann keine Aufzeichnungen gibt, aber immer noch Hilfsmittel, z. B. die Jahresringe von Bäumen. Irgendwann werden die Ergebnisse mit extrem indirekten Mitteln gewonnen. Lassen sich das Wissen über die ersten 100 Jahre mit dem Wissen über den Zeitraum 100.000 - 100.100 überhaupt noch vergleichen? (2) Es könnte auch sein, Sie möchten Ihr Wissen um das demnächst vorherrschende Wetter zuverlässig von 2 auf 4 Tage steigern. (Ich weiß, das ist nicht ganz korrekt formuliert, denn es geht hier eben nicht um Wissen als ein Ergebnis, das auf einer Methode beruht, sondern um die Methode selbst. Auch darüber läßt sich dann weiter nachdenken.) Bei der Verdoppelung von 2 auf 4 gehen Ihnen beim heutigen Stand der Technik irgendwo unterwegs die Computerkapazitäten aus.
Und: Wir müssen überlegen und am Ende -- wissen, was wir mit unserem Wissen anfangen wollen!
Bevor ich ins wirklich Komplizierte und blogmäßig gesehen Unangemessene komme, halte ich einfach mal fest: Quantifzierende Aussagen im Bereich "Wissen" sind so lange vollkommener Humbug, solange wir nicht eine operationale Methode haben, in der die ganz und gar verschiedenen Arten des Wissen -- die wir vorher erst einmal systematisch erfaßt haben -- mit den Methoden der Wissensgewinnung und der Wissensverwertung in einer sehr komplexen "Theorie der Wissensgenerierung" verbunden sind. Oder um es noch mal einfach zu sagen: Newton und Einstein haben bestimmte Voraussetzungen der Wissengewinnung durch Theorien verändert, ohne selbst viel zum empirischen Wissen auf der Basis ihrer Methode beizutragen. Welches "Quantum" hatten ihre Theorien?
Mal sehen, was bei Wikipedia aus diesen Überlegungen wird.
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Warum sollte sich die Rate 'noch beschleunigen'? Wahrscheinlich stehen hinter dieser Formulierung die vollkommen unangemessenen Bilder von der Zinseszinsrechnung und auch vom Karnickel-Geburtenzuwachs: 'Wenn die Kaninchen dann wieder Kaninchen bekommen, dann ...')
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Nachtrag: Bei der Wikipedia ist immer ein Absatz von mir stehengeblieben.
Eine Kritik quantitativer Bestimmungen von ‚Wissen‘
Dass ‚Wissen‘ zumindest in zwei grundsätzlich verschiedenen Kategorien auftritt, erläuterte Nassim Nicholas Taleb. Er geht davon aus, dass das Wissen von Mediokristan und das von Extremistan – zwei Modell-Länder, die Taleb zum Zweck der Veranschaulichung „erfand“ – sich dadurch unterscheidet, dass es eine Form von Wissen gibt, das quantifizierbar wächst (Mediokristan), während das andere Wissen kategorial herausragende und in diesem Sinn extreme 'Daten' enthalten kann (Extremistan). Die Aufstellung einer eine neue Form von Daten ermöglichenden Theorie wäre dem zufolge eine andere Art Wissen, als das Wissen um die Daten, die von der Theorie generiert werden.
Insgesamt ein wenig wenig, wenn ich das da oben bedenke. (25.09.2015)
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Nachtrag: Bei der Wikipedia ist immer ein Absatz von mir stehengeblieben.
Eine Kritik quantitativer Bestimmungen von ‚Wissen‘
Dass ‚Wissen‘ zumindest in zwei grundsätzlich verschiedenen Kategorien auftritt, erläuterte Nassim Nicholas Taleb. Er geht davon aus, dass das Wissen von Mediokristan und das von Extremistan – zwei Modell-Länder, die Taleb zum Zweck der Veranschaulichung „erfand“ – sich dadurch unterscheidet, dass es eine Form von Wissen gibt, das quantifizierbar wächst (Mediokristan), während das andere Wissen kategorial herausragende und in diesem Sinn extreme 'Daten' enthalten kann (Extremistan). Die Aufstellung einer eine neue Form von Daten ermöglichenden Theorie wäre dem zufolge eine andere Art Wissen, als das Wissen um die Daten, die von der Theorie generiert werden.
Insgesamt ein wenig wenig, wenn ich das da oben bedenke. (25.09.2015)