Dienstag, 7. August 2018

"Kampf um Deutungshoheit"

Ein längerer Ausschnitt aus der FAZ zum Thema Wikipedia.

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"EDIT-WAR" AUF WIKIPEDIA

Die Lotsen bleiben an Bord

VON DANIEL GRINSTED 01.02.2011 (faz.net)

Wikipedia, kürzlich zehn Jahre alt geworden, ist bei der digitalen Kanonbildung längst federführend. Wie hart hier der Kampf um Meinungshoheit oft ausgefochten wird, lässt sich am aktuellen Fall der Gorch Fock studieren.

Wissen ist Macht. Das wusste schon der chinesische Kaiser Yongle. Im Jahr 1403 entsandte er Tausende von Gelehrten in jeden Winkel seines Reiches. Ihr Auftrag: Informationen aus allen Wissensbereichen zusammenzutragen – von Kunst bis Medizin, von Religion bis Landwirtschaft. Am Ende der fünf Jahre währenden Recherche waren 23.000 Schriftrollen zusammengekommen. Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die chinesische Enzyklopädie als umfassendste der Welt. Dann kam Wikipedia.

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Inklusionisten versus Exklusionisten

Zu der Frage, was bei dem in mindestens 257 Sprachen vorliegenden Nachschlagewerk gefunden werden soll und was nicht, haben sich zwei Lager gebildet: Auf der einen Seite stehen die Inklusionisten. Sie sehen in der digitalen Natur des Lexikons den Auftrag, so viele Informationen wie möglich aufzunehmen. Schließlich begrenzt kein Bücherregal die Zahl der Lemmata. Weitergedacht bedeutet das: Wie in Borges’ Erzählung von der Karte im Maßstab 1:1 fiele Wikipedia irgendwann mit der Welt zusammen. Und würde dadurch vielleicht obsolet.

Ihnen entgegen treten die Exklusionisten: Für sie steht die Frage nach der Relevanz im Mittelpunkt. Warum ein Begriff wichtig genug ist, um Eingang in die Enzyklopädie zu finden, ist mehr oder weniger streng geregelt. So kann ein Dorf Erwähnung finden, wenn es auf einer Landkarte eingezeichnet ist, ein Koch muss mindestens einen Michelin-Stern besitzen. Ein Schriftsteller, der zwei Bücher veröffentlicht hat, darf hinein, der Debütant muss draußen bleiben.

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Kampf um Deutungshoheit

Wie groß die Macht eines Autors ist, hat der Fall von Karl-Theodor zu Guttenberg gezeigt. Vor zwei Jahren hatte ein Beiträger den zehn Vornamen des Politikers einen fiktiven elften hinzugefügt. Zahlreiche Medien übernahmen diese Angabe. Dieser Vorfall veranlasste Wolfgang Stock und Johannes Weberling, an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) das Projekt „Wiki-Watch“ ins Leben zu rufen. Auf dessen Website werden der Grad der Zuverlässigkeit eines Eintrags sowie nichtüberprüfte oder umstrittene Passagen angezeigt. Darüber hinaus ist die Anzahl der Autoren und Bearbeitungen ausgewiesen. Und da gibt es einen aktuellen, hochspannenden Fall, einen „Edit-War“, wie es im Wiki-Watch-Blog heißt, nämlich den der – Gorch Fock.

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Die mächtigen Unbekannten

Angesichts der Bedeutung von Wikipedia wirkt es fast schon bizarr, dass so wenig über die Menschen bekannt ist, die bei der deutschsprachigen Version die Fäden in der Hand haben. Die bestimmen, was Eingang findet und was nicht. Die Einträge sperren oder löschen können und dies – laut Wolfgang Stock – im Vergleich zu ihren amerikanischen Kollegen besonders gern tun. Anders als ursprünglich beabsichtigt, herrscht bei Wikipedia anscheinend eine verschworene Gemeinschaft, die oligarchisch über die „kollektiv erstellte“ Enzyklopädie wacht. An der Spitze der Hierarchie stehen 281 Administratoren. Was ist über sie bekannt? In einer Umfrage von Wiki-Watch gab ein Fünftel von ihnen Auskunft. Demnach ist der durchschnittliche Administrator ein etwa vierzig Jahre alter, linksliberal gesinnter Mann mit Abitur oder Hochschulabschluss. Als Motivation für seinen Einsatz gibt er an, Wikipedia besser machen zu wollen und dafür täglich siebzig Minuten zu investieren.

Man könnte diese Verwalter des Wissens als mächtigste Unbekannte Deutschlands bezeichnen. Sie gestalten die Meinung und das Weltbild von Millionen von Menschen. Vollständige Neutralität, das zeigt der Kampf um die politisch heikelsten Stichworte, bleibt eine Utopie, Wikipedia ist nicht mehr als die Summe seiner Teile. Aber eben auch nicht weniger.

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