Dienstag, 12. April 2011

Empirische Literaturwissenschaft 1

Seinerzeit, bei seinem Erscheinen, habe ich von diesem Buch gelesen. Lauter Verrisse. Und die Verrisse waren geschrieben worden, weil sich da ein Prominenter, der Tagesschau-Chefsprecher Köpcke, an einem Roman versucht hatte. Noch im Köpcke-Nachruf musste der SPIEGEL schreiben:

"Seine Ausrutscher aus der unpersönlichen Seriosität wurden öffentlich diskutiert: seine Versprecher, sein Urlaubsbart, sein mißglückter erotischer Roman, sein papierraschelnder Protest gegen die Versetzung an den Katzentisch bei den "Tagesthemen", der ihn fast seinen Posten als Chefsprecher gekostet hätte."

Jetzt, nach so vielen Jahren, in denen ich Köpckes Roman im Kopf hatte, ohne ihn je auch nur angelesen zu haben, habe ich es tatsächlich getan: Ich habe mir diesen Roman gekauft! Via Internet, für 0,01 Euro. Plus 3 Euro Porto und Verpackung.



Und mit diesem Roman ist da wieder die Überlegung: Dass die Literaturwissenschaft, oder doch wenigstens eine Sparte von ihr, eine Sparte, die man "Empirische Literaturwissenschaft" nennen könnte -- dass diese Sparte etwas Besonderes tun müsste: Sie müsste von dem vorurteils- und traditionsgeschwängerten Qualitätsbegriff, der die Grundlage der traditionellen Literaturwissenschaft bildet, vollkommen absehen und literarische Texte erst einmal als reines Material nehmen. Eine Art Chemie des Literarischen schwebt mir da immer vor. So wie die Chemiker den Schwefelwasserstoff chemisch untersuchen und ihn nicht wegen seines üblen Geruchs|* von der Würde chemischer Analyse ausschließen, so müsste die Empirische Literaturwissenschaft alle durch ihr Erscheinen als literarisch ausgewiesenen Texte erst einmal vollkommen neutral beschreiben. Am Ende könnte sie sich dann gerne in Qualitätsbestimmungen versuchen und eine Verbindung zur traditionellen Literatur- wissenschaft herstellen; aber der Anfang wäre die sachlich-kühle Analyse.

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|* Vorsorglich sei einem Missverständnis vorgebeugt: Schlechte Qualität literarischer Texte ist in der Analogie nicht im Mindesten gleichzusetzen mit üblem Geruch von Gasen. Übler Geruch von Schwefelwasserstoff ist etwas, was in unseren instinktiven Voraussetzungen angelegt ist. Es wird wohl keinen Menschen geben, der Schwefelwasserstoff-Geruch als angenehm empfindet. Arzt-Romane in Heftchenform hingegen finden manche Menschen sehr gut, und nur die Machtverhältnisse des literarischen Betriebs und die bürgerliche Tradition stufen solche Texte als trivial ein. Wobei das Bildungsbürgertum nach Art der katholischen Kirche zu suggerieren versucht, dass die eigenen Maßstäbe schon die gültigen sind. Auf der anderen Seite gilt natürlich: Das Bürgertum ist eine Klasse, die sich in der Selbstkritik ständig, wie das heute so heißt: neu erfindet. Insofern kann man diesen Standpunkt auch als bürgerlichen Standpunkt bezeichnen. Eine komplex-komplizierte Sache. -- Wenn die Qualitätsdiskussion später einmal wirklich geführt wird, dann können wir auf diese Vergleiche, Metonymien, Analogien zurückkommen und es wird zu fragen sein, was die 'tausendjährigen Eier' der chinesischen Küche und auch einen guten Maotai von wirklich faulen Eiern und schlimmen Whiskey-Sorten unterscheidet. Aber bis dahin ist ein weiter Weg. 

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Nun also vorab: Nein, ich will nicht, und nicht einmal, was die Richtung angeht, sagen, dass Köpckes Roman "Bei Einbruch der Dämmerung" gut oder schlecht ist; das wäre ja ein Verstoß gegen das Programm der Empirischen Literaturwissenschaft. Ich nehme ihn einfach als literarischen Text. Und die Frage ist, wie analysiert man chemisch, andere würden, wenn sie von einer sachlichen Analyse sprechen, vielleicht sagen: linguistisch, einen solchen Text? Wir brauchen erst einmal ein Programm der Fragestellungen.

Beginnen wir mit einer Textprobe, mit der ersten Seite des Romans:



I

1

Er schloß die Tür hinter sich und stand, endlich, in seiner Welt. Mit hängenden Armen wartete er neben dem Lichtschalter, eine Minute der Geduld. Aber die Augen gewöhnten sich nicht an die Dunkelheit. Keine Konturen vertrauter Gegenstände lösten sich. So blieb es bei der Vermutung eines aus Falten wie gedrechselten schweren Vorhangs und bei der Ahnung von Bäumen jenseits des Vorhangs und des Fensters, in der Finsternis, in der kein Mond Licht vertropfte. Diese zweite Morgenstunde war keine Stunde der Romantik. B.T. hob die Hand zum Schalter. Türkislicht mit einem Nebenstrom Honigfarbe fiel aus der mongolischen Ampel an der gedunkelten Holzdecke in den großen, rechteckigen Raum. Der Nacht entrissen, setzten Buchrücken in den schwarz hochragenden Regalen Glanzlichter auf. B.T. zündete die Kerzen in dem dreiarmigen Jugendstilleuchter an, und die zwischen den Büchern in Lücken stehenden Figuren und Gegenstände bekamen Leben. Ein siamesischer Buddha, handhoch, Muscheln, merkwürdig geformte Steine, ausgeschwemmte Hölzer, Rauchgläser, kleine Spiegel, Schachteln aus Schildpatt oder Halbedelstein formierten sich zu einer schlampigen Phalanx noch erinnerter oder schon vergessener Vergangenheit. Und dann die Bilder. Sie überdeckten die wenigen freien Stellen der Wände, waren zwischen Büchern aufgestellt oder hingen an den Außenseiten von Regalen. Da waren ein paar Porträts von Frauen, einige Vorfahren ohne Namen, eine alte italienische Skizze, alles recht klein von Format. Erheblich größer nur das Ölgemälde eines imaginären Wasserschlosses, und wieder klein die untereinander hängenden, schmucklos weiß gerahmten Fotografien. Sie zeigten Hotels in Istanbul und Sofia, in Wien, Rom,


5

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Für die Stoffsammlung: Henryk Broder im SPIEGEL zum Roman von Laien und speziell zum Roman von Michel Friedmann, Kaddisch vor Morgengrauen.

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